Escapade Juli_August

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

zurück im Sommer. Und zurück im Ruhrgebiet.
Der Oberhausener Marcus Verhülsdonk nimmt uns in dieser Ausgabe mit auf eine Tour de Force durch die Tage seiner Kindheit im Pott.
Ob auf aufgemotztem „Polorad“.  Auf einem „Luxusliner“ schippernd im wässrigen Nachbarland. Oder traumatisiert in Vatters „Firmenkarre“ durch monströse Waschstraßen…
Was sind schon die waghalsigen Stunts von Evel Knievel oder die bewusstseinsertweiternden Visionen eines Carlos Castaneda, wenn man das hier einigermaßen überstanden hat?
Dennoch… ist er in der Ferne, zieht es ihn nach Oberhausen.

Wir kommen mit.

Eure, Flora Jörgens und Silke Vogten

Titelfoto sowie alle folgenden Fotos von Marcus Verhülsdonk

led shoppelin
Fotografie, Marcus Verhülsdonk; „led shoppelin“, Oberhausen, 2017

Die Pforten der Wahrnehmung

Generation Polo

Meine Eltern weigerten sich ebenfalls,
eines ihrer Kinder auch nur auf einem Polorad
(ja, denn so hießen die von einigen Ignoranten
nach einem Neckermannmodell fälschlich allgemein als „Bonanzaräder“
titulierten Gefährte mit Sissybar, Mittelgangschalthebel und Bananensattel in Wirklichkeit!)
fahren zu lassen, geschweige denn,
zumal wir vier Brüder waren, auch nur eines anzuschaffen.
So mußten wir die Gebrauchtteile- und Trödelmärkte
durchforsten und durchkungeln,
um unsere Knabenräder wenigstens
mit bizarren Anbauten aufzumotzen,
die von meinem Vater, ich frage mich heute manchmal ob derlei Wortkreationen
ein Hinweis auf eine tourette’sche Erkrankung gewesen sein mögen
oder bloß auf die Schöpferkräfte des Ruhrgebiets, als lebensgefährliche
„Pillemann-Arsch-Lenker“ diskreditiert wurden
und nicht montiert werden durften.
was uns selbstredend nicht davon abhielt,
Drahtesel zu frisieren wie blöde.
Meine aus aufgesteckten Regalschienen gefriemelte
2-Meter-Gabel fiel allerdings bei der Probefahrt ab,
als sich mein grotesk gewichtsverlagerter „Chopper“
beim Überfahren eines Bordsteins aufbäumte,
so daß sich bei der Landung die Reste
der abgesägten Originalgabel ins Pflaster frästen
und ich wegen der abrupten Bremsung beinahe
tatsächlich die in Vaters despektierlicher Bezeichnung
vorausahnend mitschwingenden Verletzungen davontrug.
Zum Glück wenigstens ohne Mittelgangschalthebel.
Unser Idol hieß jedenfalls Evel Knievel.

Marcus Verhülsdonk

Escapade Juli_1
Fotografie, Marcus Verhülsdonk; München, 2017

Heimweh

Wie den verirrten Wand’rer in der Wüste, Durstes sterbend die
Fata Morgana eines frischen Quells in der Oase grausam höhnt,
dem Ertrinkenden Gestade lüget vor, wo eis’gen Meeres nasses Grab nur
und nicht rettend Ufer lieget, wie im Todeskampfe bang ersehnt,
so höhnen meiner armen Seele allenthalben in der Fremde die
verfluchten Schilder, die ersehnter Heimat teuflisch ähnlich zwar,
doch derart grundverschieden, daß der bitterlich Gequälte stöhnt.

Marcus Verhülsdonk

Escapade Juli_3
Fotografie, Marcus Verhülsdonk; Bad Wildungen-Reinhardshausen, 2017

Hilthopeklamaha

Hilthopeklamaha war zu lang, also hat mein vater das unikum von blecheimer, daß er
uns daheimgebliebenen nach zahllosen fahrten zu zahlreichen dubiosen
gebrauchtbootkleinanzeigeninserenten endlich als waren luxusliner beschrieb,
nachdem ein einziger besuch auf der schnieken yacht meines dicken onkels Theo,
seines zeichens maler- und tapezierermeister in bottrop, genügt hatte, um ihn die
vermittels eines für unsere sechsköpfige familie bereits schmerzlichen kredits
erstandene und ohnehin mit eher nachlassendem häuslichen übe-fleiß mißachtete
heimorgel marke philicorda herzlos und verlustreich weiterveräußern und, angefixt
vom traum des freizeitkapitäns-, ach was, -admiralsdaseins, vermittels eines
weiteren, x-mal schmerzhafteren kredites jenes obskure trumm mit den
omnibusfenstern und dem genieteten panzerkreuzer-potemkin-stahlrumpfes von
1936 tatsächlich erwerben zu lassen, das die entspannteren niederländer
gelegentlich mit „daar komt de electrische trein!“ begrüßten, während ihre
entrüsteteren landsleute ihm „rotmoffen!“ hinterherbrüllten, wenn in seiner hecksee
ihre plezierbootjes beinahe kenterten und die carbonade vom campinggazkocher
schlitterte, weil vatter wie hypnotisiert mit vorschriftsmäßig am heck wehender
deutschlandfahne auf das grüne licht an der schleuse zudrosch, was der betagte,
brüllende und rußende lkw-motor hergab, vorbei an ver-dutzenden eignern
ebensovieler links und rechts am ufer vetäuter,  vormals friedlich wartender
spaßschiffchen, die noch von keinem Lothar Günther Buchheim, keinem Klaus
Doldinger und schon gar keiner unheiligen allianz von beiden auf eine derartige
begegnung vorbereitet worden waren, und das eher ewig gestrige polderbewohner
auch schoneinmal mit kuhmist beworfen hatten, als es durch die brillante
urlaubstourenplanung des kaleus einst unvorsichtigerweise in regionen
des oranjereiches kreuzte, denen vom durchgedrehten nachbarreich womöglich
seinerzeit besonders übel mitgespielt worden war, kurzerhand Hilmarc getauft, nach
dem ältesten und dem jüngsten „besatzungsmitglied“, Hildegard und Marcus. im
winter kam es an land, vatter ersann ab und zu neue farbgestaltungen, und mich
wundert beim schreiben der geschichte, daß es nie marinekameradschgaftsgrau
gerollt wurde.

Marcus Verhülsdonk

Schiff
Fotografie, Marcus Verhülsdonk

Waschstraßenmonsterflashback

was sind schon Castanedas pforten der wahrnehmung, kann ich mit der expertise dessen, der sie nie gelesen hat, aber als offiziell erwachsener auf die kindheit zurückblickend fragen, angestoßen durch einen der seltenen eigenen besuche einer der mit jeder von vadders komplett verquartzräucherstänkerten firmenkarren seinerzeit an fast jedem wochenende rituell angesteuerten waschstraßen, im vergleich zu diesen, noch dazu für einen fünfjährigen, der nach seiner dortigen initiation, in deren verlauf er, den sicheren tod vor dem tränengetrübten auge, zunächst sicher war, sich auf dem verdienten, direkten weg in die unbeschreiblichste hölle zu befinden, weil er einfach zu oft heimlich mutters ingwerpralinen aus der wohnzimmervitrine geklaut hatte, ganz zu schweigen vom streng verbotenen heimlichen ausziehen und wieder zusammenschieben von vaters kostbarem fotostativ und herumgefummel an dem noch faszinierenderen fächerartigen reflektorschirm des kompakt-blitzbirnchen-aufsteckblitzgerätes bis beides den dienst versagte (oje, mutters kostbarer chinesischer papierfächer war ebenfalls meinen eingehenden konstruktionsuntersuchungen zum opfer gefallen), bald darauf sogar, dem angstwahnsinn nahe, überzeugt war, er würde ebendort nicht etwa nur dem schnöden, geradezu lächerlichen teufel oder dessen schrecklichsten monstern, inklusive demjenigen, das der zweitälteste bruder hinterhältig, mit effekvoll unters kinn gehaltener taschenlampe höchstselbst unterm bett des knaben liegend und fratzen durch die von jenem allabendlich widerstrebend auf das erhoffte fehlen solcherlei ungemachs blickkontrollierte ritze zwischen der beiden kleinsten brüder kinderbettchen fußenden hindurch dargestellt hatte begegnen, sondern dem furchteinflößendsten, grauenerregendsten wesen, das je ein menschenkind als todsicher existent heraufbeschwörphantasiert hatte, gleich hinter diesem schier unendlichen spalier taumelnder, pelzig pöbelnder und vaters taunus 17 m immer aggressiver anrempelnder und mit tausend triefenden tatzen betrommelnder fellderwische ausschließlich auf verderb ausgeliefert sein würde, denn hier hauste sie todsicher: DIE GRRRÖPPE, jenes 1000-schlaflose-nächte-alptraumwesen, zu dessen gehirnerweichendsten horroreigenschaften gehörte, daß man es beim besten willen nichteinmal der eigenen, besorgt von kindlichen angstschreien und wehklagen nächtens verschlafen auf den plan gerufenen mutter, auch nur annähernd plausibel zu beschreiben vermochte, da sein äußeres zu changieren schien zwischen dem skelett aus dem 50er-jahre-gesundheitslexion, auf dem anstelle eines kopfes jedoch umgedreht der in mehreren ebenen aufklappbare bauchraum der frau samt uterus und fötus aus dem gleichen vermaledeiten buch thronte, allerdings andauernd auch eine deutlich brutaler verbrannte version des kopfes von Busch’s lehrer lempel nach der detonation seiner von den bösen buben mit schießpulver gestopften tabakspfeife darstellend, der wiederum farbe und oberfläche wie ein besonders kostbares, merkwürdig geformtes edelholzexemplar aus vaters realer pfeifensammlung oder aber wieder wie eine trockenpflaume hatte, während die ganze kreatur im nächsten augenblick scheinbar mühelos und ohne übergang die gestalt unseres ersten, von anfang an uralten handstaubsaugers mit dem sicher schwarzmagischen siemens-und-halske-blechlogo und einer körperform, die mit ihrem beigen blechtopfunterteil und ihrem bösen schwarzen kopf auch noch entfernt an die von mir so gehaßten wespen erinnerte und der sogar deren stich durch gelegentliche tückische stromschläge, die man an seinem gehäuse bekam, scheinbar mit schurkischem ehrgeiz nachahmte, annahm, was mir die benennung der quelle meines grauens weiter erschwerte, da ich wie unter hypnose gezwungen war, die schreckgestalt in dieser erscheinungsform, scheinbar senkrecht in bodennähe durch die luft schwebend, was an verstörender unheimlichkeit erst recht nicht zu überbieten war, als „DIE MUMMI“ zu bezeichnen, die übrigens gerne mal dem elterlichen schleiflackkleiderschrank entschwebte, in dem auch ihr alter ego, „DIE GRRRÖPPE“ logierte. wenig später jedoch, nach der katharsis des ersten waschstraßenbesuchs, verlangte ich, nunmehr auf dem vordersitz postiert zu werden um den blöden bürstenbumsern aufrührerisch die tollkühnsten grimassen zu schneiden und ab sofort jeden noch so übertriebenen radiobericht über die unendliche länge von tunneln, z.b. am gotthardt, für erlogen und erstunken zu halten, hatte ich doch alle pforten der kindlichen wahrnehmung langst siegreich durchschritten!
Marcus Verhülsdonk

 

Escapade Juli_4

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Fotografie, Marcus Verhülsdonk; München, 2017

 

Der Künstler dieser Ausgabe:

Marcus Verhülsdonk

Marcus Verhülsdonk, Marcus Verhülsdonk verlässt Oberhausen, die Stadt, in der er lebt, nur äußerst ungern.
Und wenn doch, überfällt ihn sofort Heimweh. Also entweder Oberhausen Odershausen? Dabei war er früher (und auch noch heute) unterwegs. Wie u.a. Texte und Bilder bezeugen.
Wer ihn besuchen möchte, kann das auf jeden Fall machen. Z.B. auf  www.facebook.com
Unser Tipp: dort auch seine Fotos anschauen. Geht hier aber auch. Alle Fotos und Texte: Marcus Verhülsdonk.

 

 

 

 

One Comment

  1. Flora

    Waschstraßenmonsterflashback kann nur Thomas Krause lesen! Sollten wir mal wieder, oder? Eigentlich haben wir eine Einladung zu „Der Berg ruft“ – aber leider keine Aufführungsstätte…

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