September


Titelbild: Petra Blank & Jo Kirchherr

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

an diesen Bildern kommt man einfach nicht vorbei. Großformatig im Bürgerhaus Stollwerck in Köln ausgestellt, zeugen die Portraits von einer Intensität, der sich der Betrachter nicht entziehen kann. Petra Blank und Jo Kirchherr experimentieren mit einer alten Technik, nämlich Kollodium-Photographie – Silber auf Glasplatten und viel Licht bringt die Foto-Modelle zum Leuchten.

Die Lyrik von Silke Vogten wird im Oktober in ihrem neuen Band „Lauter und Leuchtender“ erscheinen. Die einzige Verbindung übrigens zwischen den Portraits und den Texten ist hier das „Leuchten“, inhaltlich haben Texte und Bilder nichts miteinander zu tun.

Beides hat aber solche Wucht, dass mir die Idee gekommen ist, eine Ausgabe der Escapade unter das Thema „Männer“ zu stellen und die nächste den „Frauen“ zu widmen. Ich hoffe, Euch gefällt’s genauso.

Eure,

Flora Jörgens

 

Titelbild sowie alle folgenden Bilder: Petra Blank & Jo Kirchherr


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

Männer

Der Mann gegenüber

Er raucht seine Zigaretten
allein vor dem Haus
so blass und geduckt
wie die Figur aus einem Comic
den ich nicht lesen möchte

Eine Frau, drei Hunde
und zwei bleiche Kinder
mit großen Köpfen
scheinen auf seinen hängenden
Schultern zu lasten wie Blei

und wenn er um
die Ecken zum
Supermarkt schleicht
zieht sein Gesicht so
missmutig in die Tiefe
dass jeder Gruß
da unten verhallen würde

also lass ich es
und guck weg

Silke Vogten

 


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

Erinnerung an den August M.

Ganz früher
gab es den Mann im Fenster
er lehnte dort oben auf Kissen
im Sommer wie im Winter

einmal sah sie ihn
auf der Straße
und es war fast ein Betrug
denn mehr von ihm
gab es auch hier nicht zu sehen

die untere Hälfte fehlte
und den stark gezeichneten Rest
zog seine Frau
schmallippig an allen vorbei
und grüßte Niemanden

Der Mann barg ein dunkles Geheimnis
und zeigte allen
die er nicht mochte
(und das waren viele)
mit abrupten Gesten
wild gegen den Kopf
hämmernd einen Vogel

Verrückt war er nicht
nur ungeheuer wütend
auf die unbekannte Größe
die es stets nur auf ihn
abgesehen zu haben schien

Silke Vogten


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

Der Mindestlohn und die Geldbörse

Als der Mindestlohn kam
konnte mein Vater
nur noch müde lächeln

Denn da war er 79 Jahre
und sein letzter Rentnerjob
bald Geschichte

Zwei Monate
profitierte er noch
von der großzügigen
Errungenschaft

Dann war Schicht

Dafür tröstete er sich
mit zahlreichen
Portemonnaies aus Leder
von BOSS

bei jenem Herrenausstatter
für den er zuletzt arbeitete
und die er dort
in Mengen zockte

Das wird sein
Vermächtnis

Ich brauche
bis an mein Lebensende
nie wieder
ein neues Portemonnaie

 

Geschichtsstunde

Diese  Frau,
die angeblich
auf eine Familiengeschichte
blickte,
die bis in 12. Jahrhundert reicht
ging mir nicht aus dem Kopf.

Beim nächsten Treffen
also fragte ich am Küchentisch
meinen Vater
nach meiner Familie:
„Was hat denn dein Vater gemacht?“

„Maschinist bei Mannesmann“,
antwortete er nicht ohne Stolz.
„Und dein Großvater?“

Er dachte kurz nach.
„Den habe ich nicht mehr gekannt.
Der war schon tot.“

„Ist er im ersten Krieg gefallen?“
Er zuckte die Schultern.
„Ja, ist möglich. Woher soll ich das wissen?“

„Hast du nicht gefragt?“
Er sah mich an:
„Wie denn? Er war ja schon tot.“

Mehr war da nicht rauszukriegen.
Und aufgeschrieben
hat es sowieso niemand.

Silke Vogten

 


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

Der Triumph des Einen über das Andere

Am Ende
obsiegte dann doch
die Lust des laissez faire

Denn er wusste
womöglich würde dies
sein letztes Fest

am Ende eines Jahres
am Ende seines Lebens
inmitten tout Paris

und den Mund voller
alter Stumpen lächelnd
zeigend wie endlich die Augen

dachte der Modezar
zuletzt vielleicht
Scheiß auf die Optik

Silke Vogten

 


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

Bereit zum Abschuss
(Gedanken eines befreundeten Fotografen)

Inmitten
fader Schönheiten
sagt er:

„zu volle Welt
all das lahme Alltagszeug
und das Ertragen der Langeweile
der Existenz

Es kommt uns holen
wir sind schon
im Fadenkreuz
in direkter Reichweite

Lang
kann das
nicht mehr dauern…“

Silke Vogten

 


Foto: Petra Blank & Jo Kirchherr

 

Die Künstler dieser Ausgabe

Jo Kirchherr im schwärzesten Teil des Schwarzwalds geboren, begann seine Fotografenkarriere als Kind in der Dunkelkammer seines Vaters. Wenngleich seine ersten Opfer Musiker und Künstler waren, so hat er sich im Laufe der Zeit der Food-, Lifestyle- und Reisefotografie zugewandt. www.jokirchherr.com
Er arbeitet für diverse Hochglanz-Magazine, seine Bilder erschienen in Büchern zahlreicher Spitzenköche, „Eating in Paradise“ gewann den Gourmand World Cookbook Award. Die Kollodium-Portraits sind in Zusammenarbeit mit Petra Blank entstanden. 2018 im Eigenverlag auch in Buchform: #ISO-01, mehr darüber unter www.iso-01.de

Silke Vogten ist meistens Poetin. Dazwischen Journalistin/Autorin und seit 2010 mit Flora Jörgens Herausgeberin des Kunstbriefe escapade-belles-lettres.
.Aktuelle Publikationen: 
„Als ich hinsah“ (2017)  und „Getanzt wir immer“ ( 2016) beide im Verlag Trikont Duisburg/ Dialog Edition.
Dazu diverse Veröffentlichungen in Literarurmagazinen wie z.B.  Drecksack/ Lesbare Zeitschrift für Literatur (Berlin) oder perspektive / Hefte für zeitgenössische Literatur), Graz/Berlin. Ebenso in diversen Lyrikanthologien wie „ Cinema“, (2019)  und “ Mein durstiges Wort gegen die flüchtige Liebe“, (2017) beide im  Elif Verlag  sowie  in „ Lemmy – eine Hommage“( 2018)   im Verlag  Trikont Duisburg
Ihr aktueller Lyrik Band  „Lauter und Leuchtender“ erscheint im Okober 2019 im  Verlag Trikont Duisburg / Dialog Edition.

 

4 Comments

  1. Rainer Resch

    So beeindruckende Fotoportraits habe ich bisher selten gesehen. Toll (alter Ausdruck voll fett).
    Ja und Silkes Lyrik finde ich super (ebenfalls voll fett, für die Jüngeren). Meine geheime Lyrikerin des Jahres.
    Rainer

  2. Bernd aus MH

    Sehr ausdrucksstarke Personen-Portraits, insbesondere die ‚Bärtigen“, garniert mit erquickenden, ehrlichen , nachdenklichen Worten, zu denen ich witzigerweise auch ein Gesicht habe.. Chapeau!

  3. Sehr ausdrucksstarke Portraits, vor allem die „Bärtigen“ gefallen.
    Und, „lauter und leuchtender“ geht es kaum, liebe Silke. Chapeau! Witzig, wenn man(n) bei einigen geschriebenen Portraits auch ein Gesicht dazu hat. 😉

    Bernd aus MH

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