Titelbild: Papagayo Ticket, Privatbesitz Stefan Wimmer
Editorial
Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,
wer mit unserem Freund, dem Schriftsteller Stefan Wimmer bereits die „12 Leidenswege nach Pasing„ beschritten hat, der weiß Bescheid.
Über ihn und seine legendäre Kajal Clique aus dem Münchener Stadtteil Pasing…
Und wer nicht, der folgt ihm jetzt trotzdem gleich in das ruhmreiche Italien der 80er Jahre. Genauer nach Milano Marittima 1985. Und in einen unvergesslichen Sommer voller Mädchen und abstruser Begebenheiten … Hier sind wieder alle mit dabei – Roderick, Meindorff, Deibel, Wimmer himself. Doch statt zum Bahnhof Pasing geht es diesmal an den Strand und in Discos mit klangvollen Namen wie den Papagayo Club…
Ein toller Trip. Hormongetrieben. (Wir sind unterwegs mit 16-jährigen…) Superwitzig. Schön schräg. Nostalgisch auf die gute Art.
Unser ultimativer Lesetipp für den Sommer 2024 ist somit ganz klar Wimmers gerade erschienenes Taschenbuch „Lost in Translatione„, veröffentlicht im Blond Verlag.
Ein Besuch in der Italo-Disco – andere Zeiten, andere Sitten…
Kommt mit, geht raus, seid frei, und macht euch locker.
Kurz: genießt den Sommer, und vergesst dazwischen nicht das Lesen!
Eure
Silke Vogten und Flora Jörgens
Lost in Translatione
Kapitel: Italo-Disco
Dann kamen wir beim Papagayo an. Von der ersten Begegnung mit dem Papagayo zu erzählen, ist so, wie wenn ein Süchtiger das Gefühl beschreiben soll, wie es war, das erste Mal Stoff gespritzt zu haben. Im Nachthimmel kreuzten sich blaugrüne Scheinwerferkegel, über dem angrenzenden Pinienwald waberte Trockeneisnebel, und schon von weitem klang aus dem Inneren des Papagayo unglaubliche Musik: Italo-Disco-Blubbern, pumpende Synthesizer und Frauenstimmen, die kühl wie Himmelbetten waren. Eine Weile diskutierte Meindorff noch mit uns um den Eintrittspreis, dann legten wir zusammen und luden die Frauen ein. Ein Greis in Livree nahm unsere Lire entgegen, öffnete die Kordel und ließ uns hinein. Wir setzten unsere gleisnerischen Sonnenbrillen ab, und was wir sahen, beendete unsere Jugend:
An die 80 Mädchen standen im Papagayo herum, alle in unserem Alter, alle bildhübsch. Mädchen mit arabischen Nasen, Mädchen mit Stupsnasen, Mädchen mit schlanken Nasen, Mädchen mit dunkelhäutigen Gesichtern, Mädchen mit norditalienischen Gesichtern, Mädchen mit germanischen Gesichtern. Mädchen mit Satinhosen und Perlen-Colliers… Mädchen mit Fitness-Tops und Bauchkettchen… Mädchen mit Stachelfrisuren, Mädchen mit geknoteten, nabelfreien Hemden, Mädchen mit verrückten, fast zirkushaften Outfits… Mädchen mit Schweißstirnbändern, Mädchen mit Strass-Klunkern am Ohr, Mädchen mit schlanken wollüstigen Fingern, Mädchen mit Hotpants und Kaskaden von Löckchen, Mädchen dunkler als Mohammeds Puffmutter, Mädchen mit Mandelaugen, Mädchen mit Froschaugen, Mädchen mit weichen Gesichtern, Mädchen mit harten Gesichtern, Mädchen mit jeder erdenklichen Art von Sex-Appeal… Und alles an diesen Mädchen schimmerte: der Schmuck, die Stoffe, die Haut… Sie glitzerten im Discolicht wie Blinkköder und waren atemberaubend schön.
Obwohl Flashdance und Xanadu schon wieder ein paar Jahre her waren, sahen all diese Mädchen aus, als ob Jennifer Beals und Olivia Newton-Jones aufs horizontale Gewerbe umgestiegen wären. Dazu diese wahnsinnig gute Italo-Disco-Musik, mit Synthesizern, die pumpten, zischten und ätherische Töne von sich gaben.
Fassungslos ließen wir uns auf eine der Plüschsitzbänke fallen und sagten minutenlang kein Wort. Wir starrten nur auf diesen Film, der sich vor uns abspielte. Aurora und Maura schienen den Laden bereits gut zu kennen, sie unterhielten sich über Details, deuteten auf Dinge und nannten Namen. Dazu erzählte Aurora wieder Geschichten, die – ob wahr oder falsch – auf ewig in meinen Ohren hallen werden, beispielsweise die Episode, in der sie mit Mick Jagger abendessen war: »It was not so good…«, gähnte Aurora. »Mick was very tired…« Und dann kam wieder ein neuer Schwung phantastischer Frauen ins Papagayo, und Roderick sagte:
»Wahnsinn, ja?! Wahnsinn! Habt ihr so was in München schon mal erlebt?«
»Never ever, Commander!«, sagten wir. »Never ever!«
»Ja, i glaub, i glaub…«, haspelte Deibel, »…des gibt’s ned amal im Street Café!«
»Ach, Street Café…!«, jaulten wir auf. »Den Scheißladen kannst du doch hiermit überhaupt nicht vergleichen.«
Foto: Hotel Solemare in Milano Marittima
Wir holten uns an einem Barfenster ein Bier, das im Eintrittspreis inbegriffen war, und setzten uns wieder auf die Plüschbänke, gegenüber eines großen Fernsehers, der Musik-Videos ausstrahlte. Ich war glücklicherweise bei der Platzverteilung direkt neben Aurora zu sitzen gekommen. Sie saß aufrecht wie eine Statue und sah auf die stummgeschalteten Videos aus den Charts, die nicht deckungsgleich waren mit dem Italo-Disco-Sound, der im Papagayo lief. Dazu erzählte sie wieder ihre komplett verrückten Geschichten, deren Fan ich inzwischen war. Meindorff saß uns gegenüber und haspelte völlig entfesselt auf Flavio ein, dabei immer wieder auf Aurora starrend:
»Nein, Peligro hat dem Interviewer nicht einfach nur ’ne kleine Abreibung verpasst! Peligro hat ihn brutal zusammengeschlagen!« Hier schüttelte Meindorff wie besessen den Kopf. »Ratzfatz! Aus die Maus! Es kam nur EINE falsche Frage, da kickt Peligro ihn ohnmächtig – mit einem Round Kick! Ohne mit der Wimper zu zucken!«
Dann geschah das Unglaubliche: Aurora führte ihren langen, mageren Arm zwischen meinem Rücken und dem Polster hindurch und legte ihn mir sacht an die Taille. Mein Herz schlug bis zum Hals.
»Natürlich! Natürlich!«, bekräftigte Meindorff. »Aus der Nase geblutet! Das ging wie Arsch auf Schüssel!«
Aurora behielt ihren Arm an meiner Seite und berührte mit ihren Fingern ganz leicht meine Armeehose. Nur Flavio hatte etwas von der Aktion mitbekommen. Er murmelte mürrisch:
»Hey, Wahnsinn! ’S gibt’s doch nicht! Der Wimmer wieder!«
Ich sah zu Aurora, die nur starr auf den Fernsehschirm blickte und das Kinn hob. Ganz klar ersichtlich schien die aktuelle Rangliste zu heißen: Frankie Goes To Hollywood → Billy Idol → Mick Jagger → Stefan Wimmer. Wenn nicht sogar Leslie Mandoki noch in der Verschlagwortung vorkam.
Ich sah auf das Sphinxgesicht von Aurora, mit ihren naturblonden Augenbrauen und den grünen Augen, und hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Schließlich sagte Aurora leiernd:
»It’s quite boring, isn’t it?«
›Boring‹ fand ich es nun gerade überhaupt nicht. Zudem hatten sich auch schon wieder ein paar Grüppchen von Italienerinnen neben uns eingefunden und starrten uns wie die Marsmenschen an.
»Yeah…«, bekräftigte Aurora leiernd. »Today is not a good day for discoteque!«
Ich fragte:
»Do you want to eat something? Do you want to go to a pizzeria?«
Aurora rümpfte die Nase und fragte:
»Why?«
»Or do you want to go to a bar?«, fragte ich.
»Why?«, nölte Aurora wieder.
»Or do you want to go to a restaurant?«, platzte ich schließlich heraus, schon völlig mit meinem Latein am Ende.
Aurora starrte wieder auf den Fernsehschirm, auf dem The Jacksons mit harten, dynamischen Bewegungen etwas skandierten, dann sagte sie:
»Ooooh, I know these guys! They invited me to do a video with them in Los Angeles. But I wasn’t in the mood. Besides that, I couldn’t take holidays from school.«
Ich starrte ebenfalls auf den Bildschirm, zuerst auf Jermaine, dann wieder auf Auroras kühl-porzellan-artiges Gesicht mit dem leichten Wangenflaum. Verdammt nochmal, dachte ich, ich werde nicht schlau aus dieser Frau! Zuerst stand sie mit ihrer Freundin in einer kahlen Betonhalle voller dröhnender Idiotenspiele, dann erzählte sie irgendwelche verrückten Geschichten vom internationalen Jetset, und jetzt saß sie mit ihrer Hand an meiner Hüfte neben mir… Das Ganze war so undurchsichtig, dass es fast nach einem Komplott klang.
»We could go to the beach!«, sagte sie plötzlich.
»The beach?«, fragte ich.
»Yeah! The beach!«, sagte Tom Hanks, der gerade mit Tornister, Tarnhelm, Sturmausrüstung und M1 an uns vorbei zum Ausgang stapfte. »See you at the beach!«
»The beach?«, fragte ich nochmals an Aurora gewandt.
»Yeah! Why not?«, sagte Aurora. Mir war nicht ganz klar, zu welchem Zweck sie jetzt aus der Disco wollte.
»Ähem!«, hüstelte ich und wandte mich an die Anderen. »Anscheinend will diese Aurora mit mir zum Strand gehen!«
»Jetzt? In der Nacht?!«, fragte Meindorff. »Bist du wahnsinnig?! Du kennst diese Leute doch gar nicht!«
Auch Roderick beugte sich vor, griff meinen Arm und murmelte:
»Und wenn sie dich dort abschlachten?«
In diesen Jahren waren in Deutschland tatsächlich immer wieder Nachrichten von ermordeten Individualtouristen und Trampern durch die Zeitungen gegeistert, und man hörte regelmäßig von Fällen, wo Touristen in Nachtzügen mit – ins Abteil eingeleitetem – Gas betäubt und dann ausgeraubt wurden, nebst anderen Horrorstories.
»Ich will ja eigentlich auch gar nicht zum Strand…«, sagte ich, »Ich will ja eigentlich nur ein Bier! Andererseits glaube ich nicht, dass hier jeder ein Killer ist.«
»Zur eigenen Sicherheit, ja?!«, sagte Roderick wie ein Hypnotiseur. »Zur eigenen Sicherheit!«
Ich hatte ebenfalls nicht die geringste Ahnung, was ich von alldem halten sollte. Eigentlich wollte ich zu Flavio schon sagen: »Flavio! Frag Aurora nach ihrer Adresse! Lass dir ihren Pass zeigen! ›Zur eigenen Sicherheit, ja?!‹, wie Roderick sagt. ›Zur eigenen Sicherheit!‹« Aber das alles war so furchtbar deutsch. Das alles war so furchtbar Brusttäschchen. Obwohl andererseits gerade der Herr des Brusttäschchens jetzt im Augenblick kein Halten mehr kannte. Er streckte mir groß sein Tapir-Gesicht entgegen und nölte:
»Nimmst mi’ mit, Steve? Sag, nimmst mi’ mit? I mag aa’ mit dabei sei’, wenn des Techtelmechtel steigt!«
Aurora zeigte sich völlig unbeeindruckt von der ganzen Diskussion. Sie saß nur cool auf ihrem Platz, was ich allerdings auch schon wieder extrem verdächtig fand, und Roderick rief mehrmals aufgebracht in Richtung Aurora:
»He can’t! He can’t!«
Doch Aurora antwortete nur leiernd:
»Why do you make such a big fuzz out of it?«
Schließlich stand sie auf und gab mir ein Zeichen, mitzukommen. Dann wechselte sie ein paar Worte mit Maura und nahm meine Hand. Wir gingen nach draußen, und Aurora legte ihren Arm um meinen Körper. Ich versuchte stolpernd mit ihr Schritt zu halten, doch nach wenigen Metern geriet ich aus dem Rhythmus und musste auf ihre Tennisschuhe starren, um im Gleichschritt zu bleiben. Bei meinem Geholpere kamen mir immer wieder Rodericks und Meindorffs düstere Warnungen ins Gedächtnis. Die beiden mussten es ja wissen, sie hatten schließlich die ganzen indizierten VHS-Videos zuhause, Sachen wie Das letzte Haus links, Mondo Cannibale und Eaten Alive. An uns vorüber surrten leise diese unsäglichen Tretgondeln, erwachsene Italiener in den Straßen-Cafés blickten vom Tisch auf und sahen mich – wie mir schien – mit einer Mischung aus äußerstem Mitleid und Schrecken an, und auch die restlichen Passanten machten den Eindruck, als ob sie eingeweiht in unvorstellbar schlimme, perverse Vorkommnisse seien.
Foto: Stefan Wimmer in persona, Milano Marittima
Die zehn Blocks zum Strand kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hatte das Gefühl, dass der ganze Ort mein Herzklopfen hören konnte. Aurora griff sich meine schlaff herabhängende Hand und knetete sie mit den Fingern, was mich daran erinnerte, dass auch Henker zu zärtlichen Gesten fähig waren. Wir erreichten das Strandareal, dahinter begann nachtschwarze Dunkelheit. Wie bei Apollo-11-Bildern drang nur diffuses, hartes Licht über die Dünen und brach sich an den Hügeln und Kratern.
»Wait!«, sagte ich. »I need a beer from the beach café!«
»A beer?«, fragte Aurora entrüstet. »You don’t need a beer now!«
»Doch!«, sagte ich. »Doch! A beer is very important now!«
Ich ging rasch zum letzten beleuchteten Punkt – einem Strandkiosk –, kaufte ein Bier und stolperte durch den Sand zurück. Aurora saß auf einem Liegestuhl und sah mich an. Ich setzte mich neben sie. Durch die Reihen der Sonnenschirme hörte man Hundegebell, Lachen und Musik. Bleich schimmerte der Turm von Cesenatico in der Dunkelheit.
»Why did you want to leave the discoteque?«, fragte ich.
»Many reasons!«, sagte Aurora und drückte ihre Lippen auf meine. Das war in ungefähr die sinnloseste Antwort, die ich je gehört hatte.
Foto: Mädchen in den 80er Jahren…
Foto: Stefan Wimmer, aka der Belesene, aka Professor Frosch früher…
… und heute..
(Porträtfoto: Sebastian Weidenbach)
Der Künstler dieser Ausgabe
Stefan Wimmer, geboren 1969 in München, Journalist und Schriftsteller. Von ihm erschienen u.a. „Die 120 Tage von Tulúm“ und „Der König von Mexiko“, er erhielt 2010 den ersten Deutschen Radiopreis für die beste Sendung, ein dreistündiges Radio-Feature über den mexikanischen Bolero und war 2011 (u.a. mit Herta Müller) Ehrengast auf der Internationalen Buchmesse in Guadalajara.
2019 begann Wimmer eine Roman-Trilogie über das München der achtziger Jahre, eine Saga rund um die „Kajal-Clique“, eine Gruppe von vier befreundeten Schülern am Karlsgymnasium München-Pasing. Über den ersten Teil der Trilogie, „Die 12 Leidensstationen nach Pasing“, schrieb Benedict Wells: „Gott, ist das gut! Wenn das kein Kultbuch wird, weiß ich auch nicht.“. Die SZ nannte es „ein verdammt gutes Buch“. Wimmer selbst sieht seine Trilogie im Stile von Helmut Dietls „Münchner Geschichten“. Der zweite Band, der Roman „Lost in Translatione„, erschien 2024 im Blond Verlag, München.