April 2020


Titelbild: Stefan Wimmer (Himself Mitte der 80er irgendwo in München-Pasing)

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

er ist zurück – Stefan Wimmer aka The Artist formerly known as Der König von Mexiko. Und zwar so richtig zurück: in die eigene Vergangenheit. Sommer 1985. Die Jungs aus Klasse 10 interessieren sich nur für New Wave, coole Optik und Mädchen. Nur: wie macht man Letztere auf sich aufmerksam?

In „Die 12 Leidensstationen nach Pasing“ erfährt man, wie. Oder besser: wie das immer wieder mißlingt. Bis das Leiden des jungen W. in der Münchner Vorstadt ein Ende findet, vergehen etliche Romanseiten voller Fehlschläge. Einer davon ist im Kapitel „Die schöne Cora“ geschildert.

Unser Lesetipp, gerade erschienen bei Heyne. Saukomisch und trotzdem feinsinnig, ein Porträt der 80er, ihrer Schüler, Lehrer, Musik, dabei absolut zeitlos. Und doch ist „Ois anders“ (Zitat nach Helmut Dietl, Regisseur, der diese Geschichte sicher gerne verfilmt hätte…)

Wir würden’s seeeehr gerne anschauen.

Eure

Flroa Jörgens umd Silke Vogten


Foto: Zurück in die 80er Jahre… Archiv: Stefan Wimmer

Die 12 Leidensstationen nach Pasing
Kapitel: Die schöne Cora I

Nachts im Bett – meine Eltern waren zum Essen bei einer entfernten Verwandten namens Tante Fanny eingeladen – rollte ich mich unter der Decke zusammen, knetete das Kopfkissen zurecht und dachte nach. Mann, natürlich war das alles völliger Schwachsinn, was wir Deibel da erzählt hatten. Bei Roderick konnte ich es nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, aber alles, was mir in meinem Leben mit Mädchen geglückt war, bestand aus zwei gescheiterten Annäherungen, die zudem schon Jahre zurücklagen. Im Grunde war ich ein total unbeschriebenes Blatt, ein völliger Rohrkrepierer, weil ich aus Tölpelhaftigkeit oder Schüchternheit bisher jede Gelegenheit versemmelt hatte. In meinem ganzen Leben hatte ich nur zwei Affären gehabt – bei dem Gedanken an das Wort »Affäre« musste ich auflachen –, und diese zwei Affären gingen nicht über ’nen Zungenkuss hinaus!

Die erste Geschichte war damals mit Cora Schmerbeck passiert, im Sommerurlaub vor vier Jahren, kurz vor der 7. Klasse. Der Urlaub war schon fast zu Ende, da kam Cora Schmerbeck mit ihrer jüngeren Schwester und ihrer Mutter in das Feriendorf, in dem ich mit meinen Eltern Urlaub machte. Sie war drei Jahre älter als ich und sah bereits wie eine junge Dame aus, klug, elegant, mit Stupsnase, Pumphosen, blauem Rouge und einem Satin-Spaghetti-Top, aus dem ihre kleinen Brüstchen hervorstachen. Von uns Kindern war nur mehr ein gewisser Udo als Gast anwesend, ein ziemlich roher Kerl aus Neufahrn, mit zahnlückigem Mondgesicht und Segelohren. Als Udo Coras Schwester Saskia zu Gesicht bekam, zischte er in mein Ohr: »I schwör’s da’! Diese Saskia, die konn ois von mir ham! Mit mei’m ersten Lehrlingsgehalt kaff i der OIS – Schmuck, goldene Anhänger, Uhren: O-I-S

 

Die 12 Leidensstationen nach Pasing
Kapitel: Die schöne Cora II

Da in der Bungalowsiedlung kaum mehr Gleichaltrige anwesend waren, hatten die beiden irre gut aussehenden Schwestern nur mehr uns als Ansprechpartner, und so spielten wir mit ihnen Tischtennis und zeigten ihnen das alte Atelier in der Nähe des Seeufers, mit den verlassenen Zimmern und den Notenblättern von anno 1933 samt NS-Stempel. In der zweiten Nacht fragte ich die beiden Schwestern im Tischtennisraum (diese Taktik hatte ich in der Bravo gelesen): »Und, wie wär’s? Wollt ihr mit uns gehen?«

Und jetzt kommt die Sensation: Ich hätte NIE! NIE! NIE! geglaubt, dass diese sensationelle Cora Schmerbeck auf mein fadenscheiniges Angebot eingehen würde, doch sie lachte nur und sagte »Ja!«, und ihre jüngere Schwester fragte tumb in die Stille hinein: »Gehen? – Wohin?!« (Diese Frage hätte von Deibel stammen können.) Daraufhin flüsterte Cora ihrer Schwester lachend etwas ins Ohr, und dann standen die beiden auf und gingen mit uns nach draußen in die Nacht, wo Cora in der Dunkelheit ihren Arm um meine Taille legte und mir den ersten Kuss meines Lebens gab. Cora brachte uns schließlich – ich lüge nicht! – in ihr gemeinsames Zimmer, wo wir herumknutschten und die Situation total aus dem Ruder lief, weil Udo irgendwelche plumpen Handlungen an der Schwester vornahm, die in Panik aus dem Zimmer floh und ihrer Mutter umgehend alles erzählte: Am folgenden Tag fuhr die ganze Familie ohnehin nach Brixen weiter.

 

Die 12 Leidensstationen nach Pasing
Kapitel: Die schöne Cora III

Udo war durch diesen Misserfolg so am Boden zerstört, dass er den Rest des Urlaubs damit zubrachte, in alle möglichen Mauern mit einem Meißel immer wieder den Schriftzug UDO + SASKIA hineinzuschlagen, so brutal, dass die Mauern fast zusammenbrachen. Für mich endete die Geschichte ebenfalls nicht glücklich. Mit Cora traf ich mich noch vier oder fünf Male in München, doch es kam nie zum Sex, ganz einfach deshalb, weil ich zu dieser Zeit noch nicht mal einen Samenerguss gehabt hatte. Ich lag einfach bloß neben Cora – die durchaus gewollt hätte! – auf dem gerippten Sofa meiner absenten Eltern und hatte keine Ahnung, was ich mit ihr anfangen sollte. Ich war so unbeholfen wie eine Wasserschildkröte.

Die andere Geschichte war die mit Susi Merle gewesen, und sie ging genauso in die Hose: Wieder einmal war Urlaubszeit, und Susi Merle war mit ihrer Familie von der Hotelleitung unserem Essenstisch zugeteilt worden. So saß sie mir beim Frühstück täglich gegenüber und glaubte immer, besonders klug und weltgewandt zu sein. Sie triezte mich die ganze Zeit von morgens bis abends wie einen Hund. Als wir uns wieder einmal in die Haare bekamen, sagte ich wütend: »Ach komm, Susi, leck mich am Arsch!«, woraufhin sie antwortete: »Sowas Freches hat noch nie jemand zu mir gesagt! Wenn du das nochmal sagst, mach ich’s wirklich!« Mit Absicht beleidigte ich sie nochmal, und Susi meinte nur knapp: »Sauber!«, und ging weg. Ich dachte zuerst, dass ich sie jetzt vernichtend geschlagen hätte, doch am nächsten Morgen hörte ich schon um sieben Uhr früh ihre vorlaute Stimme auf der Veranda. Am Frühstückbuffet zischte sie mir bei der Marmelade zu: »Du weißt, was du mir heut schuldig bist.«

 

Die 12 Leidenstationen nach Pasing
Kapitel: Die schöne Cora IV

Als ich nach dem Frühstück in den ersten Stock ging, fing sie mich im Korridor ab und bugsierte mich in ihr Zimmer. Dann befahl sie mir, meine Jeans und die Turnhose herunterzuziehen, und bald spürte ich, wie ihre Zunge über meine Pobacken leckte. Für Sekunden dachte ich, vor Schreck ohnmächtig werden zu müssen, doch sie leckte nochmals, langsam und ohne Hast. Susi stand auf und stellte sich vor mich hin, mit ihrem goldenen Pferdeschwanz, der spitzen Nase und den Sommersprossen. Und jetzt kommt der Knüller: Was tat ich? NICHTS! Ich tat N-I-C-H-T-S! Ich zog meine Hose wieder hoch, stammelte irgendwelche (wahrscheinlich schrill-erstickten) Worte und rannte aus dem Zimmer. UNFASSBAR, oder? Das waren die einzigen beiden amourösen Abenteuer meines Lebens. Dazu konnte man nur sagen: Prost Mahlzeit! Deibelmäßiger ging’s nicht! Und jetzt, als ich so zusammengerollt im Bett mit meinem Arm zwischen den Beinen lag, nahm ich mir vor, dass sich etwas ändern musste! Jetzt musste endlich mal auf den Tisch gehauen werden. Jetzt musste endlich mal Butter bei die Fische!

 


Stefan Wimmer mit Oma.

Der Künstler dieser Ausgabe

Stefan Wimmer, geboren in München, Journalist und Schriftsteller. Von ihm erschienen u.a. „Die 120 Tage von Tulúm“ und „Der König von Mexiko“, er erhielt 2010 den ersten Deutschen Radiopreis für die beste Sendung, ein dreistündiges Radio-Feature über den mexikanischen Bolero und war 2011 (u.a. mit Herta Müller) Ehrengast auf der Internationalen Buchmesse in Guadalajara. „Natürlich steht in Pasing kein Stein mehr auf dem anderen“, schreibt er, „Pasing hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, in eine mir völlig fremde Welt. Noch nicht einmal alltägliche Dinge wie Metzgereien, Treppenhäuser, Busse oder Hinterhöfe riechen so wie früher.“

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