Dezember 2019


Titelbild: Michael Dressel

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

sie haben es wieder getan – sprich sich zusammengetan.
Was uns freut. Der Dichter Florian Günther und der Fotograf Michael Dressel, beide aus Berlin und beide nicht zimperlich, haben ihre Gedichte und Fotografien erneut in einem Buch vereint. Nach „Aus der Traum“ (2017) ist das neue Werk „Gedichte aus dem Hochparterre“ so das zweite gemeinsame Projekt der beiden, das jetzt im Dezember 2019  bei Moloko Print erscheint. Dass wir sie beide sehr schätzen, muss an der Stelle eigentlich nicht erwähnt werden – in der Escapade waren sie schon oft am Start. Mr. Dressels geniale Streetfotografie, dessen Wahlheimat seit langem L.A. ist, begleitet uns seit den ersten Belles-Lettres Ausgaben ab 2010. Florians großartige Gedichte entdeckten wir etwas später. Dass beide sich dann auch noch durch uns kennenlernten – das erzählen wir immer wieder gerne….

Wir feiern euch. Lasst es krachen.

Eure

Silke Vogten und Flora Jörgens

PS. An dieser Stelle auch noch mal ein herzliches Danke Schön an den unermüdlichen Markus Schipke, Master of IT Universe, der mal wieder unser Escapade Archiv, die Années 2010 bis 2015, gerettet hat. Mit allen Finessen! Uff. All die Ausgaben. Ihr könnt so gerne wieder in unserer virtuellen Bibliothek stöbern…

 


Fotografie: Michael Dressel

Aus dem Hochparterre I

Freunde

Karl Marx hats
gern krachen lassen,
auch wenn er
selten dazu kam.

Als er sein Hausmädchen
schwängerte, nahm
Engels das Kind auf seine Kappe,
um die Ehe
seines Freundes zu
retten – und
zahlte ein Leben
lang dafür.

Marx hatte eine
Menge Grips.
Aber Engels hatte
mehr.

 

Paris 2014

In Montparnasse
suchten wir das Grab von
E. M. Cioran.

Laut Plan standen
wir davor.

Doch auf
dem Grabstein
stand ein anderer
Name.

Ihm hätte
das gefallen.

Florian Günther


Fotografie: Michael Dressel

 

Aus dem Hochparterre II

Luxus

In der Berliner
Stadtbibliothek verdiente
ich in den 80er
Jahren 415 Mark Ost
im Monat, aber ich war trotzdem jeden
Abend blau.

Für meine kleine
Wohnung
zahlte ich 25 Mark Miete.
Die Schachtel
Karo kostete 1,60 und ein Ticket
für die U-Bahn 20
Pfennig.

Alles war
billig. Alles war
grau.

Ich kannte
sogar
einen, der sich eine
ungeöffnete
Dose Heineken
auf die Kommode stellte,
nur weil sie so
schön
bunt war …

Das könnte
sich heute keiner
mehr
leisten.

 

Kratzbürste

Gestern hat
sie mich gekratzt.

Knapp neben
meinem linken
Auge hat
sie mich erwischt.

Erst acht
Monate alt.

Und schon
wie die Großen.

Florian Günther


Fotografie: Michael Dressel

Aus dem Hochparterre III

Im Rotlichtviertel

Es war weit
nach Mitternacht, und ich
würde nie wieder
einen hochkriegen, als
ich sie
rufen hörte:

Na, wat is!
Zu faul oder wat,
wa?

Schon als ich
sie bezahlte, sah sie
fern.

Auch als ich
schwitzend
auf ihr
lag und pumpte,
sah sie fern.

Und auch,
als es mir endlich
kam.

Sie stieß
mich von sich runter,
hievte ihren
schwarzen Arsch
über eine dreckiggelbe
Babybadewanne und spülte sich
die Möse, ohne auch nur
eine Szene
zu verpassen.

Es war ein
kleiner, grauer Kasten,
in dem gerade
eine Seifenoper
lief.

Es ging um
Geld, Schönheit,
Liebe
und Glück.

 

Umgesattelt

Als Taxifahrer
chauffierte er Menschen.

Heute transportiert er Schweröl als
Eisenbahnfahrer.

Er hätte sich
verbessert, sagt
er.

Florian Günther


Fotografie: Michael Dressel

Aus dem Hochparterre IV

Scham

Wir standen
an der Kasse, nachmittags,
eine Riesenschlange,
und ihr fehlten
30 oder 35 Cents,
also beugte ich mich über meine Sachen
und gab sie
der Kassiererin.

Das möchte ich nicht,
sagte die Frau.
Geben Sie ihm das Geld zurück,
ich will das nicht.

Und ich: Das
können Sie ruhig
nehmen. Ich
hab im Lotto gewonnen.

Die Frau
nickte und lächelte
mir leise zu.

Nahm ihre drei Bälger
und ging.

 

Im Baumarkt

Als ich mir vorhin
30 Meter Maschendrahtzaun
kaufen war, zählte ich
der Frau an der Kasse meine letzten
Münzen in die Hand und sagte: Ich glaube,
das kommt so hin.
Und die Verkäuferin
sah auf und sagte zwinkernd:
Wer glaubt, der weiß
nicht. Und ich
dachte: Wenn ich
geahnt hätte,
was man hier
für 30 Meter Zaun
noch obendrauf
bekommt, hätte ich
noch 20 Meter
mehr genommen.

Florian Günther

 


Fotografie: Michael Dressel

Die Künstler dieser Ausgabe

Florian Günther

Florian Günther , 1963 in Berlin Friedrichshain geboren, ist Herausgeber des DreckSack – Lesbare Zeitschrift für Literatur . Bislang erschienene Gedichtbände des Berliner Dichters sind u.a. „Mir kann keiner“, ( 2009) „Dusel“( 2004)  oder „Mehr war nicht drin“ (dieses  erschien im Verlag Peter Engstler, 2013). Ebenso „ Liebesgedichte oder so was Ähnliches“ (Moloko Print-Verlag 2018). Hier erschienen auch  „Aus der Traum“ (2017)  und nun „Gedichte aus dem Hochpaterre,(2019) beide mit Fotografien von Michael Dressel. Vorbestellungen hier.

Michael Dressel

Michael Dressel wurde 1958 im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain geboren. In den 80er Jahren ging er zunächst nach West Berlin und kurz darauf nach Los Angeles, wo er noch heute lebt und die letzten 30 Jahre, neben seiner Tätigkeit als Maler und Fotograf, als Sound Editor bei Filmproduktionen in Hollywood, L.A. arbeitet.  Er dokumentiert seit vielen Jahren fotografisch die Licht- und Schattenseiten Hollywood. Er ist bekannt für seine Street Fotografie und hat Ausstellungen in Galerien etc.

 

7 Comments

  1. Rainer Resch

    Liebe Flora, liebe Silke, wieder eine gelungene Ausgabe. Ausgezeichnete Gedichte und tolle Fotos, besonders das letzte Bild. Wie aus dem richtigen Leben (hihihi).
    Schöne Weihnachten wünsche ich Euch und natürlich allen Text- und Bildschaffenden bei escapade. Rainer Resch

  2. Calli Meißner

    Tolle Ausgabe, Ihr Beiden!
    Und Mega-Fotos, wie immer von Meister Dressel.
    Und ich steh auch sehr auf diese Gedichte; Chapeau Herr Günther.
    Und bitte nicht nachlassen …

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