Dezember 2020/ Januar 2021


Titelbild Escapade Dezember/ Januar 2021
Baum 362/ Fotografie Bernd Sommer

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

am Ende des Jahres widmen wir uns dem Baum.

Der Künstler Bernd Sommer ging in den Wald, eigentlich um zu dichten:  „Eine merkwürdig versklavte Natur umgab mich, Bäume standen in immer gleichen Abständen und schnurgeraden Reihen, jeder dritte in so einer Reihe trug eine Markierung, ein Kunststoffband in Form einer Schlinge, die mal straff, mal salopp dem Baum ein Zeichen verpasste. Das mit den Versen wurde nichts, für Poesie war hier kein Platz.“

Doch er kam auf eine Idee:
„Ab Herbst 2020 bis voraussichtlich Ende 2022 werde ich die ausgedehnten Waldgebiete der Nordeifel durchstreifen und forstwirtschaftlich markierte Bäume fotografieren. Die nahezu überall präsenten Markierungen weisen auf das wirtschaftliche Interesse an Bäumen und Wäldern hin: Markiert werden beispielsweise sogenannte Zukunftsbäume, die erst Jahre später geerntet werden sollen, markiert werden Gassen für Rodungsmaschinen und den Abtransport der gefällten Stämme, eher selten, aber ebenfalls markiert werden Bäume, die inmitten der Plantagenwirtschaft als nützlich für die Artenvielfalt angesehen werden. Etliche Bäume leiden unter den bereits spürbaren Folgen des Klimawandels. Trockenheit und Borkenkäfer setzen den Monokulturen, aber auch ersten Mischwäldern zu. Waldspaziergängern mit offenen Augen bleiben die größer werdenden Areale komplett abgestorbener Bäume nicht verborgen.

Natürlich habe ich mich gefragt, wann meine sperrige Bestandsaufnahme ein Ende haben soll? Meine Antwort war schnell gefunden, sie lautet 7000, ja 7000, Sie haben richtig gelesen, 7000 markierte Bäume werde ich ablichten, weil ich ein großer Fan von Joseph Beuys bin. Der Beuys hat nun mal Recht, wenn er sagt: „… du musst es provozieren, und Provokation heißt immer: Jetzt wird auf einmal etwas lebendig.“ Beuys pflanzte zusammen mit seinen Schülern und Helfern 7000 Eichen und machte etwas lebendig. Ich werde 7000 markierte Bäume fotografieren und in den heutigen sozialen Netzwerken irgendwie lebendig machen, tausende eintönige Posts von Stämmen mit lächerlichen Markierungen werden die schöne Aussicht verstellen und auf drängende Themen wie „Zukunft“ oder „Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen“ aufmerksam machen wollen. Meine Soziale Plastik anno 2020 ist virtuell, online, digital, zeitgemäß jenseits intakter und bereits zerstörter Natur, sie ist scharfes Abbild und schlichte Aufforderung, sie kann jede und jeden nur ermutigen, in unsere natürliche Wirklichkeit unterhalb der Äste, Zweige, Blätter und Nadeln, in dieses Dämmerlicht, in diesen Zwiespalt aus Für und Wider einzutauchen.“

In ihrem Buch „Utopie & Destruktivität – Bäume in der deutschen Lyrik“ fragt sich die Autorin Dr. Franziska Ehinger, welchen Erkenntnisgewinn deutschsprachige Gedichte mit Bäumen bringen. „Nur wenige sind bloße Naturgedichte oder zeigen nationalistische Tendenzen. Mit dem Bild einzelner Bäume und des Waldes thematisieren die Dichter vielmehr geistige Grundbedürfnisse des Menschen. Sie äußern ihr Unbehagen an der Gesellschaft, entwerfen Utopien, reflektieren über das gespaltene Ich, über den menschlichen Drang zu zerstören ebenso wie über das Kunstschaffen und nicht zuletzt über die eigene Endlichkeit. Es lohnt sich also, die oft vernachlässigten Baumgedichte näher zu betrachten.“

Ihre einzelnen Gedichtinterpretationen ordnete die Autorin in die Bereiche: Utopien – Dualismus – Zerstörung – Kunst – Tod. Im Kapitel „Verletzung und Zerstörung“ setzt sich Ehinger mit dem Lyriker Günter Kunert auseinander.

Sommer nennt seine soziale Plastik „Markiert“, über 500 Bilder hat er bereits gepostet (Facebook, etc.).

Gehen wir also in den Wald, solange er noch existiert.
Mit Ehingers Buch und Sommers Fotos. „So für uns hin“.

Eure,

Flora Jörgens und Silke Vogten


Baum 1 /Fotografie Bernd Sommer

Baum 2/ Fotografie Bernd Sommer

Markiert

Späteres Naturgedicht

Gitterwerk Bäume
Gefangenschaft des Blickes
waldwärts
Borkige Monotonie
mit Dämmerlicht durchsetzt
von Stille verraten

Ameisenheere
kommen aus ihren Heimen hervor
demonstrative Züge
„freiwillig und freudig“
lag mir im Sinn
aber unter und über dem Laub
die Erde scheint taub
gegen die Wünsche Begrabener
vor ihrem Begrabensein
und ich ging über ihre Unzahl
so für mich hin

zitiert nach: Günter Kunert,
Abtötungsverfahren, Gedichte, München/Wien 1980, S. 39

 


Baum 12 /Fotografie Bernd Sommer


Baum 126 /Fotografie Bernd Sommer


Baum 162 /Fotografie Bernd Sommer


Baum 177 /Fotografie Bernd Sommer

Markiert

Späteres Naturgedicht aus siebzehn überwiegend freirhythmischen Versen unterschiedlicher Länge hat zwei Teile, die sich syntaktisch auffallend unterscheiden. Während der erste Teil (1-6) mit prädikatslosen Satzfragmenten eine düstere Stimmung erzeugt, kehrt der zweite Teil (7-17) mit fast doppelt so viel Zeilen und der dreifachen Wortzahl zur einigermaßen korrekten Sprache zurück, wenn man von der fehlenden Inversion im dreizehnten Vers absieht, und liefert eine Art Erklärung für die Stimmung des Sprechers. Mit dieser Form ähnelt der Text dem Belagerungszustand, hier wie dort mit unverkennbar aufklärerisch-didaktischer Tendenz.

Das Gedicht demonstriert, wie sich der Blick auf den Wald stellvertretend für die ganze Natur, verändert hat durch Krieg und Diktatur. Er hat seine Unschuld verloren. Ein Spaziergang ohne Ziel und Zweck, bei dem der Mensch wie in Goethes Gefunden am Ende gar etwas Schönes findet, ist nicht mehr möglich. Das gilt trotz des Einwands, auch Goethes Gedicht könne weniger harmonisch gelesen werden. Was Kunerts lyrisches Ich im Wald noch findet, ist jedenfalls von ganz anderer Art. Die Baumstämme erinnern den Sprecher an Gitter vor Gefängnisfenstern, hinter denen er für immer gefangen bleibt, weil sein Blick so verengt ist, daß er nur noch Negatives sieht. Selbst in der Stille der Dämmerung wittert das mißtrauische Ich Verrat.

Text:  Franziska Ehinger 


Baum 289 /Fotografie Bernd Sommer


Baum 348 /Fotografie Bernd Sommer

 

Markiert

Im zweiten Teil richtet sich der Blick des Spaziergängers auf Ameisen und Menschen, einschließlich seiner selbst. Gemäß seiner Grundstimmung nimmt er die Ameisen als „Heere“ im Sinne instrumentalisierter Soldaten oder Jugendgruppen wahr, die angeblich „freiwillig und freudig“ einem Befehl zum Aufmarsch folgen. Dann fällt das Stichwort des Goethezitats: „Sinn“. Es ruft die verlorene Gegenwelt auf, die einen Reim („Laub“/„taub“) nach sich zieht. Dem „Sinn“ antwortet im Schlußvers, wo das Zitat sich eindeutig zu erkennen gibt („so für mich hin“) nochmals ein Reimecho. Im Zusammenhang mit dem Goethe-Zitat tritt das lyrische Ich hervor. Offenbar kann nur in diesem Kontext die eigene Innerlichkeit noch zur Sprache kommen. Doch die Gegenwelt wird reflexartig abgewehrt. Der Gedanke an die Toten und Ermordeten, die unter dem gleichgültigen, „taub“ scheinenden Walderde liegen mögen, läßt sich nicht verdrängen. Die „Begrabenen“ erhalten keinen Reim; einen solchen Schmuck muß das desillusionierte Ich als unangemessen – Brecht würde es „Übermut“ nennen – verwerfen. Ihre „Unzahl“ hebt nur eine etymologische Figur hervor.

So spricht das Gedicht von dreierlei Beschädigungen bzw. Zerstörung. Zu den bereits Begrabenen kommt als weiteres Opfer der Wald, genauer: sein traditionell positives Bild. Beschädigt wird auch das Individuum, das sich nur noch in einem Zitat wiederfindet und am Ende so gleichgültig „taub“ erscheint wie die Walderde („und ich ging über ihre Unzahl / so für mich hin“).

Text:  Franziska Ehinger 


Baum 373 /Fotografie Bernd Sommer

 

Die Künstler/innen dieser Ausgabe

Franziska Ehinger studierte Germanistik und Romanistik. Nach der Promotion unterrichtete sie Sprachen und Musik. Ihre Lehrtätigkeit unterbrach sie immer wieder, um ihre Studien zur Literatur fortzusetzen, aber auch, um einer handwerklichen Arbeit nachzugehen. Ihr jüngstes Buch „Utopie und Destruktivität – Bäume in der deutschen Lyrik“ erschien 2019 bei Königshausen & Neumann, www.koenigshausen-neumann.de – mit freundlicher Genehmigung. Günter Kunert: „Späteres Naturgedicht“ in: Günter Kunert: Abtötungsverfahren. Gedichte. © 1980 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München.

Bernd Sommer, 1963 in Köln geboren. Ingenieurtätigkeit, bildender Künstler, Verfasser von Lyrik und erzählender Prosa, Gedichte, Kurzgeschichten, bisher drei Romane, Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und Magazinen, diverse Ausstellungen und Beteiligungen. Er betreibt in Schleiden/Eifel seit 2003 das kleine Kulturzentrum „Die Gezeitenpumpe. „Dieser ganze digitale Quatsch geht mir eigentlich am Arsch vorbei, obwohl ich das mal studiert habe.“

3 Comments

  1. Die Texte haben mich sehr berührt. Aber auch hilflos gemacht. Ich habe gerade ein Kindermusical geschrieben, in dem Waldmonster auf ungewöhnliche Weise Kinder erziehen, die dem Wald nicht mit der gebührenden Achtung begegnen. Es ist voll Humor und sehr viel Hoffnung geschrieben, dass wir alle diese Achtung erwerben können.
    Ich bleibe mal positiv und gehe jeden Tag in den Wald. Er kommt mir noch immer sehr mächtig vor. Und vielleicht ist er doch stärker als wir und unsere Technologien.

  2. Ganz schön heftig. Dieser Beitrag hat mich sehr berührt. Ich habe nämlich gerade ein Kindermusical geschrieben, in dem Waldmonster Stadtkinder zu mehr Achtung vor dem Wald „erziehen“. Mit viele Humor. Da ist doch noch Hoffnung? Dass wir alle mehr Achtung vor dem Wald entwickeln?
    Ich bleibe mal positiv.
    Und gehe jeden Tag in den Wald. Nicht um zu dichten, sondern, um meinen Kopf frei zu bekommen und mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Das klapt immer!

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