Escapade Februar 2017

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

es geht weiter.
Und es geht nach draußen…

In dieser Ausgabe stellen wir den Schauspieler und Dichter Dincer Gücyeter vor, folgen ihm in seine Welten.
Er schreibt Gedichte über seine deutsch-türkischen Wurzeln.
„Es ist diese Sehnsucht, diese Sehnsucht nach den Wurzeln meiner Familie, aber genauso diese Sehnsucht nach dem Leben hier!“
Ein Gefühl, das viele nicht kennen. Andere schon.

Eher Fernweh wecken dagegen die Bilder aus dem gar nicht so weit entfernten Zeeland.
Aber von da ist es nur noch ein Sprung in die See um über zu machen nach dem einstigen Sehnsuchtsort Amerika…

Aber wer will da jetzt gerade schon hin?

Eure, Silke Vogten und Flora Jörgens

Titelbild sowie alle folgende Fotografien: Dirk Bannert

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

 

Heimat und Fremde

vatersprache

erzähle mir ein Märchen, Vater
ein Märchen aus einem fernen Land
ein Land möchte ich von dir hören
wo zwei dickköpfige Feigenknospen aufblühen
wo die Menschen den Fluss unter der Erde
mit verkrusteten Füssen spüren

streue auf meine Erde die Melonensamen
das Bild meiner Wurzeln will ich ewig tragen
wie der Baum, der uns seinen Schatten schenkt
wie die Frau mit gestutzten Ästen
will ich mit eckigen Steinen einen Kampf beginnen

das Wasser in deinem Brunnen
möchte ich schlürfen
von diesen engen Gassen auf deinen Stamm hüpfen
erzähl mir ein Märchen, Vater
pflege mich in deinen Töpfen
erzähle, trete nicht zurück, sei tapfer

Dincer Gücyeter

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

Heimat und Fremde

pech!

still wie das Wasser
feuerscheu wie das Holz blieb ich versteckt im tiefen
Brunnen unter harten Krusten

in Lebenshänden bin ich nun offen
geschält mit dem Messer der Zeitgesänge!
jetzt wird jedes Wort eine Mutprobe
jeder Blick ein Verdacht in euren Augen

ihr werdet mir die Hände fesseln
den Mund zunähen
aber dieses Herz, das hinter dem Leben heult
nach nackten Fingern und Zehen dürstet
werdet ihr nicht mehr still bekommen

nun ist es einmal auf dem Strich gelandet!

Dincer Gücyeter

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

Heimat und Fremde

wunde

frage mich nicht
die Berge verschleiern sich mit dem wiehernden Wind
suche mich nicht
der Meeresboden verrät dir nicht, wo meine Splitter sind
vertone meine Gedichte nicht
die Wörter meiner Narrheit habe ich mit Gegenstößen vertilgt

vergesse das Haus
all seine Säulen habe ich mit Verboten verzinkt
vergesse das Kind
es war einmal, nun ist es in heiligen Geboten ertrunken
vergesse mein Auge
es stand vor deinem Lichtbogen, jetzt in Dunkelheit erblindet

jetzt in aller Ruhe
kehrt der Hirte in sein Dorf zurück: spiele du die Glocken
jetzt in allem Schmerz
zieht er den Dorn aus dem Fleisch: du bist aus mir geronnen
jetzt in der Zeit
ist ein Tausendflügler über deine Kehle geflogen

Dincer Gücyeter

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

Heimat und Fremde

manifest

die Stille trage ich im Brustkorb
in ihr brütet das Hoffeuer
ich möchte ins Meer geworfen werden
brausen auf der Mähne der Wellen
möchte zur Erde gespült werden
tot da liegen, wie ein müder Stein
dies ist kein Kampf
weder der Niederlage noch dem Sieg
will ich das Gesicht einreiben

selten wird aus einem Traum ein hoher Berg
an seinem Rücken pflücke ich wilde Blüten
selten fällt die kindliche Seele in die Reife
hinter mir sind wirbelnde Staubwolken
die Flucht wird ergriffen

der Wind; mein Brot, mein eisiges Wasser
mich kann kein Prügel halten
lieber zertrümmere ich das vertraute Heim

natürlich ist die Einsamkeit mein teuerstes Gut
ich gebe ihr einen Tritt, bekomme Tritte zurück
aus rohem Wort entbinde ich die Wunde
kehre zu mir zurück und bekehre die Welt
finde mich an einem Abgrund wieder, packe den Verstand
werfe ihn in die hungrige Tiefe

so wie ich der Sünde verfallen bin
so erschrecke ich mich vor der Güte
denn eins weiß ich:
der Weg zur Glut führt dich durch die Wollust
in Liebe verglühe ich zur Asche

denn auch ich habe das Wasser aus dem Tonkrug geschlürft
auch ich besteige die Sterblichkeit zwischen Hier- und Fernsein
letztendlich ist es eine ewige Betrunkenheit
ob du dich in den heiligen Fluss legst oder in den bitteren Wein

Dincer Gücyeter

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

Heimat und Fremde

möwe

wohin fliegt eine Möwe, wenn sie ihren Ort verliert?
wo sucht sie die verlorenen Gesichter einer Stadt?
an einem versteckten Hafen
in einer aufgebrausten Welle
oder auf der Fensterbank einer Fischerkneipe

wohin steckt sie ihren Schnabel, wenn Gedichte verstummen?
wo sucht sie die Gründe einer Wunde?
in einem toten Fischkopf
in einer leeren Bierflasche
oder in den betrunkenen Gedanken eines Schiffes

und wohin treibt dich dieses Fernweh?
wohin glühen deine Flügelschläge aus?
zu einem fruchtlosen Mund
zu einem verbrannten Bildrand
oder zum eigen Schatten, wo jeder suchte und keiner fand

Dincer Gücyeter

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Fotografie: „Zeeland“, Dirk Bannert

Dincer Gücyeter

Dincer Gücyeter, geb.1979, Sohn einer Gastarbeiterfamilie. Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker.
1998 fing mit Tschechows “Die Möwe” sein Theaterleben an. Seitdem spielte er in unterschiedlichen Theaterproduktionen.
2012 gründete er den ELIF VERLAG mit dem Programmschwerpunkt Lyrik.
Es folgten Einzelbände und Anthologien mit bundesweit zahlreichen Lesungen.
Hat bis jetzt zwei Gedichtbände veröffentlicht: „Anatolien Blues“ und „Ein Glas Leben
Lebt heute als Theatermensch/ Verleger/ Schreiber mit seiner Familie immer noch in der kleinen Provinz, wo er auf die Welt kam.

Dirk Bannert

Dirk Bannert, geb. 1967 in Oberhausen, lebt am Niederrhein. Er ist als professioneller Fotograf viel unterwegs und überschreitet dabei einige Grenzen.
Diesmal hatte er am Strand von Zeeland keine Lust auf schweres Equipment und das Suchen durch den Sucher. Locker aus der Hüfte entstanden per Handy diese Aufnahmen
in den ersten Tagen dieses Jahres. Fernweh machen sie dennoch…. Mehr als ihm lieb ist.

 

 

 

 

 

 

 

2 Comments

  1. Locker aus der Hüfte? Da muss jemand aber schon sehr gut fotografieren können! Die Bilder sind großartig; ich muss sie immer wieder ansehen. Da ist eine Dimension mehr drauf als auf anderen, oft sogar sehr guten Landschaftsaufnahmen.
    Wo kann man mehr davon sehen?
    Carola Wegerle

  2. Reiner Brückner

    Markante Gedichte, existenziell und poetisch, modern und altmodisch in ihrer seelischen Tiefe und ihrer individuellen Verzweiflung. Ich bin ein bisschen berauscht, so als ob Jessenin oder Pasternak wieder auf die Welt gekommen wären, nur in türkisch-deutscher Haut.

    Ein bisschen wesensverwandt sind sie mir auch – diese Verse. Im Sprachgestus allerdings lauter und wuchtiger als ich mir das selber gestatte, wenn ich mich – wieder und wieder – auf die Suche nach dem Nahen und dem weit Entfernten einlasse, dem Verlorenen und dem Wiedergefundenen.

    Shakespeare darf man wohl auch in dieser Ein-Stimmung zitieren: „Noch viele Blumen sah ich, aber keine,/ die nicht bestahl um Farb und Duft die meine“…(Sonette 99)

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