Editorial
Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,
vor einigen Jahren hörten wir diese Zustandsbeschreibung zum ersten Mal in einem französischen Film. Da hatte eine Frau weniger Angst vorm Verlust der Attraktivität im Alter, sondern viel direkter davor „..zum Gemüse zu werden.“
Seitdem steht dieses „Gemüsewerden“ synonym für Demenz. Ein Thema für diese Ausgabe von Escapade belles-lettres, eigentlich deshalb interessant, „weil heutzutage so viele als Zuschauer betroffen sind“, schreibt Autorin und Schauspielerin Carola Wegerle. Im echten Leben und nicht im Film.
Wenn schon Gemyse, dann „Broca-areal-i“ meint Marcus Verhülsdonk; im Broca-Areal des menschlichen Gehirns liegt das Sprachzentrum.
Die Bilder dieser Ausgabe sind von Julia Kristin Pittasch, die wir bei der Kölner Liste auf der Art Cologne 2016 entdeckten. Pittasch ist mit uns einer Meinung. Demenz ist die sicher einzige Krankheit, die für uns ‚als Zuschauer’ schlimmer ist als für die Betroffenen.
Wir kennen den Fall einer Frau in einer Einrichtung für Erkrankte. Dort gab es zum Beispiel eine Bushaltestelle (an der kein Bus fuhr), und sie ist sehr oft einfach mit gepacktem Koffer losgezogen zum Bus, um woanders hin zu fahren, Urlaub zu machen… Für Außenstehende klingt das sicher eigenartig, aber es waren immer sehr glückliche Stunden für sie, wenn es scheinbar ‚in den Urlaub’ ging. Auch wenn der Bus nie kam und alles kurz darauf vergessen war.
Kommt also mit uns auf die Reise. Unser Bus ist da.
Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten
Bild Titel: (up) growing (out). Künstlertusche auf Papier. Von Julia Kristin Pittasch
Bild: Traum von Freiheit. Aquarell und Künstlertusche auf Papier. Von Julia Kristin Pittasch
Eine Erinnerung
aphasie
böse menschen, sagt man, haben keine lieder
finden gute, wenn sie sie verlor´n, denn
dann und wann
die worte wieder?
ein wort des grußes, eines des erkennens
zwischen kummervollem chaos
auf-der-zunge-nicht-beim-namen-nennens
das kind muß einen namen haben
wessen namen? wessen kind?
wie einsam aus zusammenhang geriss´ne worte und auch menschen sind!
Marcus Verhülsdonk
Bild: growing. Acryl auf Leinwand. Von Julia Kristin Pittasch
Eine Erinnerung
Ob es bald Frühstück gibt?
Sie steht am Fenster – regungslos. Blickt hinaus auf die Vierecke im grauen Beton gegenüber, die das schwindende Licht spiegeln. Geht darin spazieren. Lange. Ein Martinshorn dröhnt in ihre Welt, die nur ihr gehört.
Das Licht ist verschwunden.
Ob es bald Frühstück gibt?
Die Sonne geht unter. Griechenland am Strand, sie waren noch nicht angekommen, warteten auf das Schiff, das sie von Athen nach Kreta bringen sollte. Auf einem Felsen saßen sie, allein, dabei war Urlaubszeit, und sie sahen den roten Ball sinken und sie war so bewegt, dass alles in ihr nach Ausdruck schrie, sie wollte tanzen, ein Bild malen, ihn umarmen, um Feuer tanzen – sie sah sie in einer Reihe am Strand -, wollte lieben lieben lieben. Doch er saß nur da und betrachtete das Naturschauspiel, zufrieden mit sich und der Welt. Kein Austausch, kein Gedanke an romantische Gefühle oder an seine Gefühle zu ihr, keine Unruhe. Unruhe, das war es, was sie immer erfüllte. Unruhe trieb sie an, trieb sie weiter ihr Leben lang, auch jetzt.
Gibt es noch nicht Frühstück?
Andere wussten, in sich selbst zu ruhen. Sie nicht. Doch war es Michael, der sie sitzen ließ, weil eine andere ihm besser gefiel. Oder vor Ort war. Die keine Unruhe in sich hatte. Sie hätte ihn nicht verlassen. Ja, sie hat ihn betrogen; in einer Beziehung, in der man sich nur alle sechs Wochen für ein paar Stunden sah, war das eine ganz natürliche Entwicklung …, wenn man so dicht mit anderen zusammenarbeitete, 16 Stunden am Tag, so dicht, sie war jung, wollte leben und er rief nie an. Schrieb ihr nicht. Wenn sie ihn besuchte, hatte er Unmengen eingekauft, machte traumhaftes Frühstück. Lud sie abends zum Essen ein. Doch dann war sie wieder allein.
Milena steht da, die Sonne ist untergegangen. Milena oder Romy oder … Die Gesichter sind nie die gleichen. Die Fremde nimmt sie am Arm.
„Kommen Sie, wir wollen uns waschen.“ Aber Milena wäscht sich nie, warum sagt sie dann „wir“?
Wir waschen uns. Ich putze meine Zähne, so viele Implantate, sie waren teuer. Wann werde ich wieder mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof fahren und jemanden abholen, der in meiner Stadt zu tun hat? Die U-Bahn …, eigentlich habe ich Angst vor ihr, dieser Schacht, so eng, dass man, wenn man hineinfällt, nie ausweichen könnte. Warum machen sie ihn nicht breiter? Die jungen Riesen, die so versunken sind in ihr Telefon, mit den Daumen ackern sie, als gelte es ihr Leben, sie haben vergessen, dass sie große Rucksäcke auf dem Rücken tragen, groß wie ich, und sie drehen und wenden sich und fegen alles, auch mich, mit ihnen aus dem Weg, und ich habe Angst, und in der U-Bahn kann ich nicht atmen. Nicht wie in einem Zug, da sitzt man hintereinander und kann sich in sich selbst versenken, nein, man sitzt sich gegenüber, die Beine berühren sich, wenn man sie nicht zurückzieht, ihren Blicken – und wie sie starren! – hilflos ausgesetzt. Lieber fahre ich mit dem Auto. Wo ist mein Auto? Ich will fahren. Fuhr immer gern. Auch in der Stadt. Ich finde immer einen Parkplatz. Milena oder Romy oder … ist weg. Sie bleibt nie lange. Ich liege im Bett, ich habe Hunger, gibt es bald Frühstück? Wo ist mein Mann? Ich hatte zwei Töchter. Und zweimal einen Hund. Jetzt habe ich ein Glas Wasser. Und ein Buch. Ich habe auch einen Fernsehapparat, aber der ist im Wohnzimmer. Das ist mir jetzt zu weit. Nach dem Frühstück …
Da liegt ein Blatt Papier, auf dem Zahlen stehen. Ich habe vergessen, was sie bedeuten. Dein Papa, Sylvia, war ein guter Mann. Er hat mir zugehört. Und sich gefreut, dass ich ihn wahrnehme. Das wäre das Wichtigste, meinte er, dass man sich wahrnimmt. Den anderen sehen, ihn spüren. Ihn hören. Das ist Glück, meinte er. Ich bin glücklich.
Manchmal redet er mich tot. Er redet überhaupt sehr viel. Was für böse Gedanken! Als sein Sarg in dem Erdloch verschwand, atmete ich auf, jetzt redet er nicht mehr, der Gedanke fühlt sich so leicht und heiter an. Er befreite mich.
Ich möchte verreisen, weit weg. Doch ich fand den Weg nach Hause nicht. Fand den Weg zum großen Aquarium. Ich versank in den Farben der Fische. Doch als sie schlossen, musste ich auf die Straße. Autos. Nach links und nach rechts und oben auf der Brücke, eins nach dem anderen, der Schornstein dort hinten raucht, auch wenn er jetzt viel kleiner ist als die Glashäuser, in denen Menschen arbeiten müssen.
Eine Polizeisirene.
Sie rast an mir vorbei.
Ich beginne zu zittern, klammere mich an einen Laternenmast. Warum gibt es Laternen in dieser Welt aus Asphalt und Glas? Aus Beton und Plastikmüll, aus Rucksäcken – auch hier. Und Telefonen und Lärm, so viel Lärm.
Ich höre den Aufzug. Carina steigt aus mit ihren Kindern und mindestens fünf Freundinnen oder Verwandten oder Bekannten, braun und südlich alle, sie lachen und rufen sich zu, was ihnen durch den Kopf geht. Ich atme auf, als sich die Wohnungstür hinter ihnen schließt.
Eine Sirene. Der Notarzt? Ich kenne diesen Wagen. Er hat mich in das weiße Zimmer gebracht, ich hasse Schläuche und das Korsett, das sie mir anlegten, ich habe es wieder heruntergerissen, und all das Papier zwischen meinen Beinen, damit sie mir nicht zur Toilette helfen müssen. Jetzt bin ich hier zu Hause. Ist es mein Zuhause? Ich glaube nicht. Jetzt muss es aber doch bald Frühstück geben!
Es klingelt, wo kommt das her? Ich kenne den Ton, kann mich aber nicht erinnern. Es klingelt, das ist schön. Ich bin nicht allein hier. Trotzdem. Ich möchte jetzt nach Hause.
Carola Wegerle
Bild:in the middle or in between. Acryl auf Leinwand. Von Julia Kristin Pittasch
Eine Erinnerung
„Einmal Gyrus frontalis inferior!“
ordere ich.
„Sitzen nicht alle Menschen
in ihren eigenen Spiegelzellen?“
entgegnet der Imbißmann freundlich.
„Welches Gemyse dazu?“
„Broca-areal-i!“
Marcus Verhülsdonk
Eine Erinnerung
Rote Schuhe mit hohen Hacken
Als sie
die Türe öffnet
knallt die orangefarbene
Bluse einen an
Und dann
fällt der Blick
runter auf diese
sehr hohen roten Schuhe
Die tragen tollkühn
76 Jahre und die Trägerin
lässig ihre fortschreitende
Demenz
„Meinst du nicht
du solltest lieber
die Flachen… Geht das denn
mit den Hohen…?!“
„Wieso das denn nicht?!!“
Berechtigte Frage
eigentlich
Silke Vogten
Bild:Land in Sicht. Acryl auf Leinwand. Von Julia Kristin Pittasch
Die Künstler dieser Ausgabe:
Carola Wegerle studierte erst Indologie, Islamwissenschaften und Ethnologie. Nach ihrem Abschluss wandte sie sich der Schauspielerei zu. Als Autorin hat sie mehrere Sachbücher veröffentlicht (u.a. „Besser konzentrieren“, Humboldt), einen Roman „Die Irak-Mission“ (epubli, 2016) und einige Kinderbücher, u. a. „Luisas Chance“ (epubli, 2016).
Kontakt über: info@autorin-carola-wegerle.de.
Julia Kristin Pittasch (aus einer Ausstellungsankündigung):„…Pittasch, geb. 1990, beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit dem Wunsch nach – und der Einschränkung von – Freiheit. Während filigrane Tuschezeichnungen sich mit Situationen der ständigen Beobachtung und Bewertung von außen auseinandersetzen, greifen kräftige Acrylgemälde die daraus resultierenden Träume und Sehnsüchte auf. Einige Werke scheinen dem Gefühl zu entspringen, nirgendwo dazuzugehören, niemanden zu kennen, endlos zu suchen. Und doch fordern die Bilder den Betrachter dazu auf, der Angst und den Einschränkungen zu entkommen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“ Mehr unter www.julia-pittasch.de
Marcus Verhülsdonk ( Beginn der Autobiographie…) „Verhülsdonk, Sie wären im werkunterricht an der hauptschule besser aufgehoben als bei mir!“ beschied mich mein kunstlehrer in der oberstufe des gymnasiums, der es überdies als einen bitter empörenden skandal empfand, daß er als ernstzunehmender künstler gezwungen war, sein brot mit dem unterrichten solch nichtswürdiger subjekte wie mir und meinesgleichen verdienen zu müssen. ich wiederum empfinde es als eine amüsante farce, als empörend skandalös dagegen den preis, den die hiesige stadtsparkasse (sic!) tatsächlich für sein unsägliches machwerk, das er als erste auftragsarbeit seit jahren zur eröffnung des neubaus ihrer zentrale vor die tür murkste, bezahlt hat.beim probetraining zum karate, zu dem mich ein klassenkamerad mitgenommen hatte, meinte der trainer „dat wird nix mit dir, du biss zu hüftsteif!“ und der werkstattmeister bei meiner elektrikerausbildung auf der zeche fand „du hast abi, kommst hier auffe zeche inne ausbildung und wills nich studieren? du biss bekloppt!“ und, bei bekanntwerden der zwischenprüfungsergebnisse „tja Verhülsdonk, wenn dat stimmt wat ich gehört hab, hasse uns alle hier ja die ganze zeit verarscht!“ „gibt leute, die brauchen dat!“ gab ich in einem anfall von todesverachtung bewußt mehrdeutig zurück.“
Silke Vogten tingelt gerade als rastlose Poetin durch die Gegend und liest u.a aus ihrem Buch: „Getanzt wird immer“ in
Köln: bei HELLOPOETRY! Freitag, 30. September 2016, 20 Uhr, Köln
Kulturcafe Lichtung, Ubierring 13, 50678 Köln, 20 Uhr
Eintritt: 5€. Mehr Infos: http://www.christoph-danne.de/hellopoetry/
Berlin: am Donnerstag, 20. Oktober, 20 Uhr, im „Watt“, Metzer Str. 9. 10505 Berlin / Prenzlauer Berg
am Samstag, den 22. Oktober, 20 Uhr, Im Goldenen Hahn“, Oranienstraße 14 a, 10997 / Berlin Kreuzberg auf Einladung des Literatur-Magazins „Drecksack“.
http://www.edition-luekk-noesens.de/drecksack/
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