Escapade September 2016

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

alles gerade irgendwie rätselhaft. Machen wir es kurz: Wer den Sinn findet, gewinnt.
Wer nicht, macht einfach weiter wie bislang.
Also auf zu seltsamen Begebenheiten, Geschöpfen, Silben und Rätseln.
Oder einfach in den Wald.  Da ist es immer gut.

Eure Flora Jörgens und  Silke Vogten

PS: Wer  in der Vergangeheit der Escapade blättern möchte:  Einfach im Archiv Années anklicken. Et voilà – all die guten Jahre sind zurück…

 

Bild_1 Markus
Foto: An einem Samstag in Noordwijk an Zee. Von Marcus Verhülsdonk

 

Silben und andere Rätsel

petatte wiel

ja, ich bin vergesslich. länger schon. und ja, es wird schlimmer.
ein anderes phänomen aber begleitet mich noch weitaus länger, von dem ich nicht
weiß,
ob es durch vorbenannte vergesslichkeit eher begünstigt
oder womöglich in schach gehalten wird:

die einsamen worte und namen.

sie fallen mir urplötzlich, ohne erkennbaren äußeren anlass ein,
oft sogar mitten in der nacht.
oder bei gesprächen, auf die zu konzentrieren mir ohnehin häufig schwerfällt,
was die sache natürlich nicht vereinfacht.
sie fallen mir komplett singulär, zur gänze ohne den hauch eines kontextes ein
und rumoren dann, teils recht hartnäckig, eine ganze weile in meinem oberstübchen,
ohne die chance einer bewusstmachung oder herleitung
was die dinge und wer die personen sind oder waren, deren bezeichnungen und
namen
da so wahllos aufploppen wie fehlermeldungen an meinem betagten klapprechner.
das ebbt dann ab.
irgendwann, ich könnte schwören, noch niemals bevor es abebbte, taucht es dann
manchmal MIT einer bedeutung wieder auf, wie beim zugseil des
benzinrasenmähers,
das man erst an den richtigen punkt zurückschnackeln lassen muß,
um den motor beim nächsten (gefühlt hundertsten ziehen) endlich anzukriegen.
das ist nicht immer der fall.
manchmal kommt das wort genauso allein und traurig zurück wie es zuerst
aufgetaucht war. es scheint dann oft ein wenig zu zittern und zu wimmern,
als sei es sich der existenziellen bedrohung durch meinen vergesslichkeitsfraß
bewußt.

seit ungefähr einem monat, ungefähr mitte juli, hatte ich das wieder,
mit dem wort oder namen PETATTE WIEL.

diesmal habe ich es gegoogelt.

„Wiel Verstappen, inhaber von „PETATTE WIEL“ in venlo“,
las ich,
„einer institution in sachen pommes frites an der Maaskade, ist am 18. juli einem
herzinfarkt erlegen.“

mach’s gut, „Petatte“ Wiel!

graag tot ziens!

http://www.1limburg.nl/venlose-frietbaas-petatte-wiel-overleden

Marcus Verhülsdonk

 

Silben und andere Rätsel

Silben-Silber

In einem Interview mit einer Brasilianerin sprach sie über einen Musiker, der ihr
deshalb schon als Kind so gut gefiel, weil er in seinen Texten immer „so mit de Silber
spielt“. Ich höre von nun an silbrige Silben über die Melodien purzeln, was die Songs
umso schöner macht. Und ich weiß seither, dass die Redensart in Wirklichkeit
„Reden ist Silben“ heißt. Warum sollte „Reden ist Silber“ einen Sinn ergeben? Nur,
wenn man mit all dem Gold Schweigen erkauft.

Flora Jörgens

 

bild2-flora-kleiner

Foto: Von Flora Jörgens

 

Silben und andere Rätsel

Sil-be-ntren-nung –

– Die der Vietnamesin, die immer immer „Guda Pedi“ sagte, und wir verstanden sie
doch, wenn wir dann die Löffel in die beste Nudelsuppe Kölns tauchten.

– Des Spaniers, der in seinen Berichte nach Kundenbesuchen oft als adverbiale
Einschränkung „Aladins“ verwendete (ohne Wunderlampe), wo eigentlich „allerdings“ hingehörte

– Des Griechens, der gerne seine Sätze mit der deutschen Floskel „Sagen wir mal so jetzt…“
begann, die bei ihm klang wie ein weiteres Getränk aus der Weinkarte,
wo man neben Retsina, Visanto und Mavrodafni auch den Samasojes findet.

– Des sympathischen Ex-Spielers von Bayern München, der in Brasilien
eine Fußballschule betreibt, wo die Bedingungen für die jungen Spieler im Hinblick auf
deutsche Verhältnisse „Kannnichtvergleich“ sind. Und man aber weiß, wie uns
Johann Peter Hebels Geschichte über den „Kannitverstan“ lehrt, dass es für das
Endergebnis letztlich unerheblich ist.

– Des Katalanens und Barça-Fans, der „Große Freude, aber: pscht!“ dem Deutschen
zuraunte, als sie im Fanblock von Espanyol Barcelona standen, also dem des
„falschen“ Vereins, der gerade ein Tor kassiert hatte.

– Des Italieners, der in den 60er Jahren nach Wuppertal kam, dort statt Deutsch nur
Platt lernte und den gängigen Fluch „Leck meck inne Tesch“ zu „Leckdetesch“
verkürzte.

– Des Polen, der als Mitfahrer im Auto „Pilzen?“ fragte, als ich eine Raststätte
ansteuerte und zur Erklärung „Pieseln“ nannte. Seither kommen mir Pinkelpausen
tschechisch vor.

Mögen sie Alle unseren Alltag weiter bereichern.

Flora Jörgens

bild-3-flora_-neu_neuiv

Foto: Von Flora Jörgens

 

Silben und andere Rätsel

Der Stirbelwurm

Es geriet der Stirbelwurm
Er machte kurz ‘ne Pause
In einen argen Wirbelsturm
Und dachte: Was ‘ne Sause!

Gerade noch Untertage
Gegraben für den Seelefrieden
Stellt nun Sturm die Frage:
Können Stirbelwürmer fliegen?

Der letzte Satz, der von ihm blieb
Im taumeligen Wirbel
Hieß, ehe er vor Angst verschied:
Voila, ich glaub’, ich stirbel!

Julia Torres

Bild 4 Flora

Foto: .Von Flora Jörgens

Silben und andere Rätsel

Tagaktive Nachtfalter

 Bei manchem Tier, speziell Insekt
hat die Natur den Sinn versteckt.
So leben sie, die Wilden und die Zahmen,
bisweilen unter gänzlich falschem Namen.

Nun jedoch finde ich,
auch auf die Gefahr hin,
dass ihr hierdurch mich
für schrecklich kleinlich haltet:

Sinnvoller als spätabends,
da gerade sie sich ausgebreitet
hat, wird offensichtlich doch
frühmorgens wohl die Nacht gefaltet!

Die Sprache, noch dazu die deutsche,
ist jedoch in Wahrheit hier der Schurke,
nennt wahllos ein betagtes Auto, einen schlechten Fußballer und auch
ein Freudenhaus, genau wie das Gemüse: Gurke.

Und ob’s „zum guten Ton gehört“,
dass matschig er beim Töpfern
an den Händen klebt
oder im Konzert man ihn
als schön und rein erlebt,
das steht dahin –
auch manches Andere ergibt
für uns nicht bloß den einen,
sondern Doppel-, Hinter-,
manchmal sogar Widersinn.
Drum seid nach Klarheit stets bestrebt.

Marcus Verhülsdonk

baumkopf-1-klein

Foto: wirklich gänzlich unbekannt

baumkopf-2-klein

Foto: ebenfalls völlig unbekannt

Silben und andere Rätsel

In Mem Oriam (silbische Stadt)

Diese Ausgabe ist gewidmet Artur Schilm vom „Lug und Trug-Team“, der in den 80er
Jahren fürs Marabo Magazin als diese Art von Musik aufkam, sie absichtlich immer
„dilletantisch“ schrieb, weil er das für einen guten Witz hielt. Ich stimme zu.
Jedenfalls jetzt. Damals hielt ich den Witz für zu gut verborgen.
Aber ist es nicht wirklich eines der ultimativen künstlerischen Statements, vor allem,
wenn man gerade sie so bezeichnet: die Dilletantische Kunst?
Hier ein Einblick in Arturs Kunst, gefilmt um 1988:
https://www.youtube.com/watch?v=RQfaqBq-xLk

Ein paar Jahre zuvor, als es noch dicke, gelbe Telefonbücher aus Papier gab, in
denen nicht nur Telefonnummern und Adressen, sondern auch Berufsbezeichnungen
stehen konnten, hatte der damalige Musik-Redakteur des Marabos und spätere
Schriftsteller Wolfgang Welt es geschafft, sich dort als „Universal-Dilettant“
einzutragen. Und die Post, alleinige Telefongesellschaft, war damals sehr streng.
Ein Beamter fragte bei ihm nach. Wolfgangs Antwort: „Ohh, schwer zu erklären…“
genügte. Nun ist auch der einzig anerkannte – quasi staatlich, denn die Post war ein
Staatsunternehmen – Universal-Dilettant gestorben. Begraben ist sein Herz an der
Biegung des Flusses Ruhr (nicht Oriam, an der Mem liegt), wo wir seiner und Artur
gedenken.

Flora Jörgens

Bild 5 Flora

Foto: Von Martin Bross

One Comment

  1. Melina

    Escapade ist Genuß kannichvergleich, im Schatten der Quichlovea* lesend, so leuft Leben.
    Flora versteht’s, sicher bin, so grün wie meine Plätzchen.

    *Kirschlorbeer

Schreibe einen Kommentar zu Melina Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert