Juni


Titelbild: „Brandenburg“, FatimaDjamila

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

Ihr verspürt Reiselust? Dann los. Allerdings erwarten uns in dieser Juni-Ausgabe weder Pool noch Wellness. Sondern wir reisen mit FatimaDjamila durch ihre Heimat Berlin und deren Umland. Per Bahn. Die Autorin und Zeichnerin mit Sinn für Abgründiges und dunkle Erzählungen führte im Sommer vor drei Jahren „Ein ganz alltägliches Reisetagebuch in 5 Akten“. Dort schrieb sie sich ihre Fahrgedanken vom Nervenkostüm und meinte dazu: „Das ganze Alltagselend wird abgerundet von der Tatsache, dass die Reise nicht selten müde zur Arbeit hin und noch müder von dieser wieder hinweg führt.“
Wir kennen dunkle Gedanken. Auch jene in der Berliner Bahn auf dem endlosen Weg zur Arbeit und zurück….

Wenn euch also draußen der Juni gerade allzu heiß und hell leuchtet, nehmt mit uns Fahrt auf und lasst die Schatten spielen.

Eure,
Silke Vogten und Flora Jörgens

 

Titelbild sowie alle folgenden Bilder und Gedichte: FatimaDjamila


Bild: „Mittagsfrau“, FatimaDjamila

 

5 Tage an der Spree

Tag 1 (Noch Nacht im Gesicht)

Die Frau neben mir hat noch Nacht im Gesicht
Denke ich so bei mir und der Lautsprecher spricht
Und Zahncreme klebt am Mund, dort am Rand
Warum hat der Typ noch/schon Bier in der Hand

Türen gehen auf und gehen auch wieder zu
Luft steht in der Bahn, so wie ich und wie du
Weberwiese, der Alex und endlich der Zoo
Die Arbeit kommt näher – mich macht das sehr froh

 

Tag 2 (Koffer)

Menschen, Katzen, Hunde
Kranke und gesunde
Stehen, liegen, sitzen
In meinem Abteil
Finde ich normal, finde ich nicht geil

essen Wurst und Fritten
nackte Beine und auch Tibiae
Schmatzen, schnarchen, rascheln
In meinem Abteil
Ist irgendwie normal, ist sicherlich nicht geil

Pöbeln, trinken, schlafen
Watergate, Heimathafen
Feiern frei von Sinnen
In meinem Abteil
Ist total normal, die finden sich ja geil

Tüten und Koffer auf Rollen
Rucksäcke, die reisen sollen
Stehen rum – und mir zieht es im Magen
Explodieren. Detonieren. Unbehagen
Angst in meinem Abteil
ist nicht normal, ist ein neues Detail

(FD)

 


Bild: „SinCity“, FatimaDjamila W

5 Tage an der Spree

Tag 3 (Erlösung)

Alle, wirklich alle, streben wir ins Licht
Weil es gleißend, verheißend zu uns spricht
Uns vom Dunkel der Untergrundbahn befreit
Und Erlösung (Codewort CO2) macht sich breit

Und ich weiß, er wird kommen
Und er holt mich zu sich
Und er nimmt mir die Last, die ich zu lange trug
„Meinste Gott?“ fragst du furchtsam
„Nee, natürlich den Zug“

Tag 4 (Stimmen)

Heute fahre ich anders, schließe die Augen fest
Ohren sollen auch arbeiten, das ist heute ihr Test
Und sie hören all diese Stimmen im Wind
Die so panisch erregt und so spanisch laut sind
Monotones Deutsch mischt sich mittendrein
Muss der humpelnde Zeitungsverkäufer sein
Schwedisch wird gekichert und französisch gestaunt
Höre einen Chinesen, der nur leise raunt
Wie ein Kaugummi zieht sich, was als nächstes erklingt
Ein Amerikaner, während hinten ein Russe singt
Meine Hand ertastet etwas auf dem Taschengrund
Es ist drahtig und sperrig und irgendwo rund
Kopfhörer, gute Marke, beenden den Test
Morgen fahre ich anders, schließ die Ohren fest

(FD)

 


Bild: „Under the See“, FatimaDjamila

5 Tage an der Spree

Tag 5 (Rollstuhl)

Etwas rollt durch das müde Morgenlicht
Etwas, das mit dem Menschsein bricht
Etwas, das sich in Lumpen und Fetzen hüllt
Eine Wunde am Arm hat, aus der etwas quillt
Mit Füßen, die den glänzenden Rollstuhl halten
Krusten, die nicht schwitzen, nicht erkalten
Etwas mit wirrer Stimme und mit wirren Blick
Etwas Mensch, etwas Leben, etwas Tod, etwas Strick
Wo es herkommt?
Wo es hin rollt?
Denk ich fröstelnd bei mir

(FD)

 


Bild: „panta ray“, FatimaDjamila

 

Die Künstlerin dieser Ausgabe….

Berlin und sein undurchdringliches Umfeld sind die (Wahl-) Heimat von FatimaDjamila sowie Orte der Inspiration und des Schaffens. Zu sehen und zu hören gab es ihre zeichnerischen und lyrischen Arbeiten bisher in diversen Einzel-und Gruppenausstellungen in Berlin, Dresden, Neubrandenburg sowie in Recklinghausen. Bei BHN Books erschien kürzlich ihr Gedichtband  „Im Fegefeuer der Nichtigkeiten“ mit Beiträgen in deutscher und englischer Sprache und Zeichnungen aus der Feder von FatimaDjamila. Aktuell läuft noch bis zum 16. Juni 2019 in der „Galerie Morgenrot“ in der Mainzer Straße 6, 10247 Berlin eine Ausstellung u.a. mit ihren Zeichnungen sowie den Arbeiten von Evgeny Khlebnikov  Diese sind allesamt mit gemischter Technik angefertigt (Fineliner und Acryl auf Papier), seltener wurde zusätzlich auch mit Buntstift gearbeitet.

 

 

 

2 Comments

  1. Als Künstler und Kunstwissenschaftler finde ich die Bilder noch interessanter als die Texte. Alle hier gezeigten Bilder sind sehr intensiv und eindringlich. „panta ray“ finde ich am besten, da es total ambivalent ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert