Mai/ Juni 2022


Titelbild: Günter Steffen, Kastanienallee Prenzlauer Berg, Ost-Berlin,
Zyklus 1984-1989

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

lichte Frühlingsmonate. Aber düstere Zeiten. In jeder Hinsicht.
Entsprechend fällt unser Beitrag aus.
Vorstellen wollen wir euch in unserer aktuellen Ausgabe das spannende Buchprojekt
„Die Hauptstadt“,  erschienen bei Hartmann Books.

Hier treffen die Fotografien von Günter Steffen auf Texte des 1937 im Exil gestorbenen russischen Schriftstellers  Jewgeni Iwanowitsch Samjatin.
Dieser beschrieb in seinem 1920 in Sowjetrusssland geschriebenen dystopischen Roman „Wir“ eine fiktive Gesellschaft, in der jegliche Individualität unterdrückt wurde. Indem der „Wohltäter“ vor allem auch Gewalttäter ist. Texte, die zeitlos und aktuell sind.

Sein erst später international bekannt gewordenes Werk schrieb Samjatin in Form von vierzig thematisch geordneten Tagebucheintragungen.
Der Protagonist, die Nummer D-503, der in einem totalitären und brutalen Überwachungsstaat im „sogenannten mathematischen Zeitalter des 26. Jahrhunderts“ lebt, beschreibt seine Rolle darin. Und das, was er denkt, fühlt, erlebt. Eine alptraumhafte Beschreibung und Vorläufer weiterer berühmter dystopischer Romane.

Im Fotoband „Die Hauptstadt “ werden dazu Bilder von Günter Steffen mit dem literarischen Text kombiniert. Der Fotograf schuf mit Entschlossenheit zwischen 1984 und 1989 einen essayistischen Zyklus über die morbide und scheinbar menschenleere Mitte Ost-Berlins. Auch für ihn war damals in seinem Land, der DDR, an Veröffentlichung nicht zu denken.

Dieser Untergangsstimmung in Steffens Fotografien stehen ausgewählte Textfragmente aus Samjatins „Wir“ gegenüber.
Hier einige Auszüge in Text und Bild aus diesem außergewöhnlichen Band.

Lest, seht und hört nicht auf zu denken.

Eure,

Silke Vogten und Flora Jörgens

PS:
Am 29. Mai 2022, 20:00 Uhr, präsentiert der Herausgeber des Buches, Regisseur und Kulturmanager Günter Jeschonnek , das Foto-Text-Buch multimedial im Berliner „Theater unterm Dach“, Danziger Straße 101. Der Fotografie-Zyklus von Günter Steffen wird zugleich bis zum 3. Juli 2022 im „Theater unterm Dach“ ausgestellt (dienstags bis sonntags von 15:00 bis 20:00 Uhr).

 


Fotografie: Günter Steffen, Christinenstraße, Prenzlauer Berg, Ost-Berlin, Zyklus 1984-1989

 

Die Hauptstadt

Eintrag 1

Stichworte: Bekanntmachung.
Die weiseste aller Linien. Ein Poem.
Ich schreibe lediglich Wort für Wort ab,
was heute in der Staatszeitung steht:
„In 120 Tagen wird der Bau der INTEGRAL
vollendet sein. Die große, historische
Stunde, in der die erste INTEGRAL
in den Weltraum hinaufsteigt, ist nah.
Vor tausend Jahren haben eure heldenhaften
Ahnen den ganzen Erdball der Macht
des Einheitsstaates unterworfen. Euch
steht eine noch glorreichere Heldentat
bevor: mit der gläsernen, elektrischen,
feuerfauchenden INTEGRAL die unendliche
Gleichung des Universums zu integrieren.
Ihr seid berufen, die ungekannten
Wesen, die andere Planeten – womöglich
noch im wilden Zustand der Freiheit –
bewohnen, dem wohltätigen Joch der Vernunft
zu unterwerfen. Sollten sie nicht
begreifen, dass wir ihnen das mathematisch
unfehlbare Glück bringen, ist es
unsere Pflicht, sie zum Glücklichsein
zu zwingen. Doch ehe wir Waffen einsetzen,
versuchen wir es mit dem Wort.
Im Namen des Wohltäters wird allen Nummern
des Einheitsstaates bekanntgegeben:
Jeder, der sich dazu befähigt fühlt, ist
verpflichtet, Traktate, Poeme, Manifeste,
Oden oder sonstige Werke über die Schönheit
und Größe des Einheitsstaates zu
verfassen. Das wird die erste Fracht sein,
die die INTEGRAL befördern wird.
Es lebe der Einheitsstaat, es leben die
Nummern, es lebe der Wohltäter!“

Eintrag 5

Stichworte: Quadrat. Herrscher der Welt.
Angenehm-nützliche Funktion.
Nur zu natürlich, dass der Einheitsstaat,
nachdem er Den Hunger (den algebraischen
= die Summe aller äußeren Güter) bezwungen
hatte, den anderen Herrscher der
Welt – Die Liebe – angriff. Schließlich
war auch diese Naturgewalt besiegt, d. h.
organisiert, mathematisiert, und vor
etwa 300 Jahren wurde unser historisches
„Lex sexualis“ deklariert: „Jegliche
Nummer hat das Recht auf jegliche Nummer –
als sexuelles Produkt.“
Nun ja, der Rest ist bloß Technik.
Man untersucht euch in den Labors des
Sexual-Büros, bestimmt den Gehalt an
Geschlechtshormonen im Blut – und arbeitet
für euch eine individuelle Tabelle
der Sexualtage aus. Hernach stellt ihr
einen Antrag, dass ihr an euren Tagen die
Nummer soundso (oder soundso) zu benut-
zen wünscht, und ihr erhaltet das euch zu-
stehende Gutscheinheftchen (rosa).
Das war’s.


Fotografie: Günter Steffen, Friedrichstraße, Weidendammbrücke, Mitte, Ost-Berlin, Zyklus 1984-1989

Eintrag 7

Stichworte: Das Wimpernhärchen. Taylor.
Tollkraut und Maiglöckchen.
Ich verbarg mich hinter der Zeitung (mir
schien, als sähen mich alle an) und vergaß
alsbald das Wimpernhärchen, die Bohrer,
alles: so sehr wühlte mich das Gelesene
auf. Eine kurze Zeile: „Nach zuverlässigen
Berichten sind wieder Spuren einer
bislang ungreifbaren Organisation entdeckt
worden, die sich die Befreiung vom
wohltätigen Joch des Staates zum Ziel
setzt.“
„Befreiung“? Unfassbar: wie zählebig
doch in der menschlichen Natur verbrecherische
Instinkte sind. Ich sage bewusst:
„verbrecherische“. Freiheit und Verbrechen
sind ebenso unauflöslich miteinander
verknüpft wie … nun, wie die Bewegung
eines Aero und seine Geschwindigkeit:
ist die Geschwindigkeit des Aero = 0,
bewegt es sich nicht; ist die Freiheit
des Menschen = 0, begeht er keine Verbrechen.
Ganz klar. Das einzige Mittel,
den Menschen
vom Verbrechen zu erlösen,
ist – ihn von der Freiheit zu erlösen.

Eintrag 11

Stichworte: … N ein, ich kann nicht, es
bleibt so, ohne Stichworte.
Abend. Leichter Nebel. Der Himmel ist
von golden-milchigem Gewebe überzogen
und man sieht nicht, was dort ist –
weiter, höher. Die Alten wussten, dass
dort ihr größter, sich langweilender
Skeptiker sitzt – Gott. Wir wissen: dort
ist das kristallblaue, nackte, unzüchtige
Nichts. Nun aber weiß ich nicht, was
dort ist, ich habe zu viel erkannt. Ein
Wissen, das absolut von seiner Unfehlbarkeit
überzeugt ist – das ist der Glaube.
Ich hatte festen Glauben an mich selbst,
ich glaubte, alles, was in mir ist, zu
kennen.


Fotografie: Günter Steffen, Prenzlauer Berg, Ost-Berlin, Zyklus 1984-1989

Eintrag 15

Stichworte: Glocke. Spiegelmeer.
Ich muss ewig brennen.
Im Operationstrakt – hier arbeiten unsere
besten und erfahrensten Ärzte unter der
direkten Leitung des Wohltäters persönlich.
Dort gibt es die verschiedensten
Geräte und – vor allem – die berühmte
Gasglocke. Es ist im Grunde ein uraltes
Schulexperiment:
eine Maus wird unter
eine Glasglocke gesetzt; eine Pumpe saugt
die Luft ab und so wird sie immer dünner
… Na, und so weiter. Außer, natürlich,
dass die Gasglocke ein ungleich vollkommeneres
Gerät ist – durch den Einsatz
verschiedener Gase und zudem – es geht
hier natürlich gar nicht um das Quälen
eines
kleinen schutzlosen Tiers, hier
geht es um ein hehres Ziel – die Sorge
um die Sicherheit des Einheitsstaates,
mit anderen Worten, um das Glück von
Millionen.
[…]
Ihr, die ihr diese Aufzeichnungen lest, –
wer immer ihr seid, aber über euch ist die
Sonne. Und wenn ihr einmal auch so krank
gewesen seid wie ich jetzt, so wisst ihr,
wie sie zuweilen ist – wie sie sein kann –
die Sonne am Morgen, ihr kennt dieses
rosige, durchsichtige, warme Gold. Und
die Luft selbst – blasses Rosa, und alles
ist von zartem sonnigem Blut durchtränkt,
alles – lebt: alle leben und alle ausnahmslos
lächeln – die Menschen. Es kann
passieren, dass nach einer Stunde alles
verschwindet, nach einer Stunde das rosa
Blut Tropfen für Tropfen ausläuft, noch
aber – lebt alles.

Eintrag 17

Stichworte: Durchs Glas.
Ich bin gestorben. Korridore.
Aus dem unüberblickbaren Grünen Ozean
jenseits der Mauer rollt eine wilde Woge
aus Wurzelwerk, Blumen, Geäst, Laub auf
mich zu – bäumt sich auf – gleich peitscht
sie mich nieder und von einem Menschen –
dem feinsten und präzisesten aller Mechanismen
– verwandele ich mich in …
Doch glücklicherweise steht zwischen mir
und dem wilden Grünen Ozean – das Glas
der Mauer. Oh große, göttlich scheidende
Weisheit der Mauern, der Schranken!
Es ist vielleicht die größte aller Erfindungen.
Der Mensch hörte erst auf, ein
wildes Tier zu sein, als er die erste
Mauer errichtete. Der Mensch hörte auf,
ein wilder Mensch zu sein, nachdem wir
die Grüne Mauer errichtet hatten, nachdem
wir durch diese Mauer unsere maschinisierte,
vollkommene Welt isoliert hatten –
von der widersinnigen, widerwärtigen
Welt der Bäume, der Vögel, der Tiere …

 


Fotografie: Günter Steffen, Invalidenstraße/Elisabethstraße, Ost-Berlin, Zyklus 1984-1989

Eintrag 21

E i n t r a g 2 1
Stichworte: Autorenpflicht. Das Eis
schwillt an. Die schwierigste Liebe.
[…] ganz davon zu schweigen, dass das
Unbekannte überhaupt dem Menschen organisch
feindselig ist und der homo sapiens
erst dann zu einem Menschen im vollen
Sinne des Wortes wird, wenn seine Grammatik
keinerlei Fragezeichen mehr aufweist,
sondern nur noch Ausrufungszeichen,
Kommata und Punkte.
[…]
[…] aus eigener Erfahrung weiß ich:
das Qualvollste ist, Zweifel in einen
Menschen einzupflanzen, ob er – eine
Realität, dreidimensional ist und nicht
sonst irgendeine andere Realität.

Eintrag 33

Stichworte: (Ohne Stichworte,
auf die Schnelle, das letzte.)
Darin – in Lettern – über die ganze erste
Seite:
– „Die Feinde des Glücks schlummern nicht.
Haltet euch mit beiden Händen am Glück
fest! Morgen werden die Arbeiten unterbrochen
– alle Nummern treten zur Ope-
ration an. Wer nicht antritt – wird
der Maschine des Wohltäters zugeführt.“
Morgen! Kann es denn – wird es denn
irgendein Morgen geben?

(Alle Texte von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin aus seinem 1920 geschriebenen Roman „Wir“.)

Fotografie: Günter Steffen, Nähe Wilhelmstraße, Ost-Berlin, Zyklus 1984-1989

 

 

Künstler dieser Ausgabe:

Jewgeni Iwanowitsch Samjatin 1884 (Lebedjan) – 1937 (Paris)  war ein russischer Revolutionär und Schriftsteller. Der Roman „Wir“ wurde 1924/25 in verschiedenen Sprachen im Ausland veröffentlicht. Erst 1988 erschien das Werk in der Sowjetunion in vollständiger russischer Fassung. Neben Wir veröffentlichte Samjatin auch verschiedene Märchen (Der Gott, Märchen über Fita etc.). 1929, nach schlimmster Hetze gegen ihn, verließ Samjatin, der zu Beginn der 20er-Jahre eine Ausreisemöglichkeit abgelehnt hatte (ein Ausreisevisum lag ihm vor), den sowjetischen Schriftstellerverband. 1931 erhielt er über Maxim Gorki die Erlaubnis Stalins, nach Frankreich auszureisen. Samjatin behielt bis zu seinem Lebensende die sowjetische Staatsbürgerschaft. Im Jahr 1937 verstarb er in Paris an einem Herzinfarkt und ist auf dem Friedhof von Thiais begraben.

Günter Steffen wurde 1941 in Berlin geboren. Physikstudium an der Humboldt-Universität Berlin (Diplom 1967). Daran anschließend Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent. 1976 Beginn der freiberuflichen Arbeit als Fotograf mit Schwerpunkt Dokumentar- und Straßenfotografie. Dazu ausgedehnte Reisen in Regionen der ehemaligen Sowjetunion (Mittelasien, Kaukasus, Aralsee). Neben der Realisierung einiger Buchprojekte übernahm er auch Aufträge im Bereich der Werbefotografie. Heute lebt er in Templin (Uckermark).

2022 erschienen Bei Hartmann books:

Günter Steffen
Die Hauptstadt

 

3 Comments

  1. Eine schöne interessante Ausgabe, besonders für einen alten Berliner, der viele ähnliche „Bilder“ erlebt und verinnerlicht hat. Auch die russischen Texte sind an- bzw. aufregend mit Blick auf den Putinschen Wahnsinn – ein Faschist wie er im Buche steht, der so tut, als stünde er für das Gute. Das Gegenteil ist der Fall. Pervers!

    Ja, diese Qualität wünsche ich mir auch für die nächsten Ausgaben der „escapade“….
    RB

  2. Günter Jeschonnek

    Eine zusätzliche Information des Herausgebers Günter Jeschonnek dieses vom Künstler Andreas Koch herausragend gestalteten Kunst-Buches, das in der tollen DZA DRUCKEREI ZU ALTENBURG, in einer limitierten Auflage sehr hochwertig produziert wurde: Am 29. Mai 2022, 20:00 Uhr, präsentiert der Regisseur und Kulturmanager Günter Jeschonnek das Foto-Text-Buch multimedial im Berliner „Theater unterm Dach“, Danziger Straße 101. Der Fotografie-Zyklus von Günter Steffen wird zugleich bis zum 3. Juli 2022 im „Theater unterm Dach“ ausgestellt (dienstags bis sonntags von 15:00 bis 20:00 Uhr).

    • VogtenJoergens

      Lieber Günter Jeschonnek,

      danke für den Hinweis. Das geben wir gerne weiter und machen es in einer Rundmail an unsere Kunstbriefleser noch mal publik.
      An dem WE bin ich leider nicht in Berlin, aber Ende Juni. Und dann freu ich mich auf die Ausstellung im Theater unterm Dach.
      Danke dir noch mal Danke als Herausgeber – ein tolles Buch.

      Viele liebe Grüße
      Silke

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