Oktober

Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

gegen Hass und Deutschidyll – ja, aber wie? Mögt Ihr fragen. Eine mögliche Antwort bietet René Sydow, Schriftsteller, Kabarettist, Schauspieler und Regisseur. Und vor allem ist er:  im Oktober frisch gekürter Poetry Slam-Meister NRW.

Mehr als 600 Zuschauer feierten seinen Text „Auf sie mit Gebrüll“ frenetisch, den er Escapade belles-lettres freundlicherweise hier zur Verfügung stellt.

Auf der Bühne gab René eine zornige wie ebenso mitreißende Performance, die natürlich hier nicht wieder gegeben werden kann. Dafür haben wir aber die Möglichkeit, uns seinen Worten in Ruhe zu widmen, zu lesen eben. Und schauen: die kongeniale Zeichnungen unseres Lieblingsgrafikers Rainer Resch – Menschen, die ratlos blicken, Wesen, die sich in seltsamen Situationen wiederfinden…
Wie wir im Jahr 2018? Fragen sich

Eure,

Flora Jörgens und Silke Vogten

(Titelbild: Zeichnung „wir+uns“ von Rainer Resch, ebenso alle nachfolgenden Bilder.)

Zeichung: „Showtime“, Rainer Resch, 2018

Auf Sie! Mit Gebrüll!

Zum Beispiel auf die Fernsehmacher, die jeden Sonntag zuverlässig einen Tatort versenden. Inhalt: Schauspielerndes Plankton von absolut zuverlässiger Austauschbarkeit spielt eine Handlung, die in etwa so spannend ist, wie einer Kaffeemaschine beim Entkalken zusehen bis man nach 90min weiß: Der Böse war´s! Ohne Niveauzuwachs kann man umschalten ins Privatfernsehen, wo jetzt Chris Tall, der personifizierte Personalmangel der deutschen Humorindustrie mit einer neuen Sendung über den Äther geht, in der Fragespielchen gemacht werden wie: „Ist diese Frau schwanger oder nur fett?“ und „ist Chris Tall ein sexistischer deutschtümelnder Zotenspießer oder…“ sorry, kein Oder.

Kann nicht einfach eine Gerüstbaufirma das Fernsehen stürmen, ungefragt die Kulissen abbauen, die heiße Luft aus Chris rauslassen, die Batterien aus den Schauspielrobotern entfernen und alle zusammen in einer Sondermülltonne in einer Salzasse in Niedersachsen entsorgen?

Zeichnungen: „Skandal“ und „Duttengretel“, Rainer Resch, 2018

 

Auf Sie! Mit Gebrüll!

Aber was rege ich mich auf? Gerade sitzen die Deutschen ja nicht vor dem Fernseher. Im Moment sitzen sie auf dem Oktoberfest und der Canstatter Wasn, den heiteren Varianten des Alkoholismus und der vor sich hin dünstenden völkischen Blaskappellenunterhaltung bei der jeder gesunde Menschenverstand gewaltsam niedergeschunkelt wird.

Die Bahnhöfe sind voll mit maximal betankten Wurstzipfelgesichtern, die wie Bratkartoffeln durch die Gegend eiern und schon auf der Hinfahrt ihr Frühstück durch Mund und Nase der Erde zurückgeschenkt haben. Ich sehe Frauen mit ironisch mißverstandenen Heidi-Zöpfchen und ins Haar gelöteten Pflanzenleichen. Gekleidet in Dirndl – der groteske Tiefpunkt des Schneidergewerbes. So genannte Kleidung, in der jede Frau aussieht wie ein aus Tütensuppenpackungen zusammengeklebter Spießergartenzaun auf zwei Gehstelzen. Daneben johlende Männer, ach, sagen wir lieber Schweinehälften in Lederhosen, die riechen und sogar aussehen wie ausgekotzter Wurstsalat und nicht müde werden in ihren lallenden Versuchen, die deutsche Sprache zu demütigen. Und was das schlimmste ist: Diese Leute dürfen alle wählen.

Zeichnung: Ohne Titel, Rainer Resch, 2018

Auf Sie! Mit Gebrüll!

Kein Wunder, wenn die AfD mittlerweile nicht nur als zweitstärkste Kraft aus Umfragen hervorgeht, sondern ihre Brut schon auf Poetry Slams auftaucht. Ich weiß, jetzt kommen die Abwiegeler, die Politiker, die meinen, man muß die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Nein, muß man nicht! Man muß nicht jede bescheuerte Meinung zulassen, bloß weil sie jemand äußert. Ich meine, gut, ich bin ja auch doof, ich versuche tatsächlich noch mit AfD-Anhängern zu reden, ich bin ja Demokrat. Wäre ich Anarchist würde ich die Kackbratzen einfach wegbomben.


Zeichnung: „Signal weg“, Rainer Resch, 2018

 

Auf Sie! Mit Gebrüll!

Ich will diese Bilder nicht mehr in der Tagesschau sehen. Auf den Straßen Neonazi-Homunculi, die einen putzigen Kostümfaschismus aufführen und sich dabei als Herrenrasse fühlen. Dabei hätte Adolf die verfetteten Herrengedecke mit intellektuellem Starter-Kit maximal als Kanonenfutter an die Ostfront geschickt, weil sie mit dem Übermenschenideal soviel zu tun haben, wie Klumpfuß Goebbels mit einem Hürdenläufer.

Die sehen auch wirklich alle gleich aus. Ist Ihnen das mal aufgefallen? Wie Klone. Es gibt Gegenden in Sachsen, da wird schon seit hundert Jahren geklont. Also, sie nennen es nicht klonen, sie nennen es Cousins.

Liebe Neonazis, Pegidas und AfDler im Saal: Hört doch auf mit diesen lächerlichen Demos und Spaziergängen! Greift endlich zu Mitteln, die uns allen helfen: Hungerstreik und Selbstverbrennung!

Zeichnung: Ohne Titel, Rainer Resch, 2018

Auf Sie! Mit Gebrüll!

Und sie wissen jetzt, daß ich so weitermachen könnte. Ich könnte weiter simpel draufhauen, schimpfen. Und es würde sogar Spaß machen. Und eigentlich habe ich nur Angst, denn all die Erwähnten sind sich unglaublich sicher. Das Fernsehen weiß, was ich sehen möchte; die Bierindustrie weiß, wie ich mich amüsieren möchte, die AfD weiß, was die Leute auf der Straße wollen. Alle sind sich so sicher. Auf uns regnen Scheinwahrheiten und Behauptungen, so daß man keinen Grund vor die Tür schickt. Und ich? Ich würde für einen begründeten Zweifel plädieren.

Diese Welt ist verrückt geworden und das können wir nur schwer ändern, aber wir können uns fragen, wer sie verrückt hat, können uns in Gesellschaft begeben und diese dann ein wenig verändern, mit Tapferkeit, Zweifel, Humor und vielleicht auch Poesie. Warum denn nicht? Ich wäre bereit für das Gelungene. Poesie heißt: Sage es so schön, wie es nicht ist! Und wenn nur ein Text von irgendjemand heute Abend Ihr Herz bewegt hat, dann war das doch schon einen Zentimeter weltbewegend.

Also dann, Tapfer voran, Poeten! Mit Zweifel und mit Poesie! Dann werden wir mit unseren weißen Blättern Herzwege auslegen, ausgeflaggt mit Sätzen und mit Buchstaben im Spalier. Wir schreiben wieder Texte, in denen die Seiten stechen gegen die allzu Sicheren, gegen Haß und Deutschidyll

und unser Schlachtruf sei: Auf Sie! Mit Gefühl!

Zeichnung: „Let’s go.“, Rainer Resch, 2018

Der Künstler dieser Ausgabe….

René Sydow, geb. 1980, Schriftsteller, Kabarettist, Schauspieler, Regisseur. Ist für mehrere abendfüllende Spielfilme verantwortlich („Unter Wölfen“, „Lamento“, „Das geheime Zimmer“ ab 2005). Seit 2012 ist er als Kabarettist und Poetry Slammer im deutschsprachigen Raum unterwegs. Im Herbst 2012 erschien auch sein erster Roman „Der Reiher“, im September 2013 seine Textsammlung „Deutsche Wortarbeit“, in der er nebst Lyrik und Prosa auch erstmals kabarettistische Texte veröffentlichte, die zu seinem mehrfach ausgezeichneten Solo-Programm „Gedanken! Los“! führten. Es folgten die ebenso preisgekrönten Programme „Warnung vor dem Munde!“ und „Die Bürde des weisen Mannes“. Mit diesem Programm tour er gerade, die zahlreichen Termine finden sich auch auf seiner homepage: www.rene-sydow.de

Rainer Resch, Jahrgang 1954, wurde in München geboren und lebt seit vielen Jahren in Köln. Ausgaben seiner (und Peter Krabbes) Ende der 80er Jahre in Köln gegründeten Edition „Eins von Hundert“ schafften es 2015 in ein Münchener Museum. Aktuell pflegt er den Ruhestand und lässt das Zeichnen nicht…

 

Werbung in eigener Sache….

Am Freitag, den 9. November gibt es eine Lesung im Ruhrgebiet – in Oberhausen Eisenheim. Mehr Ruhrgebiet geht gar nicht als in diesem alten Quartier.

Über die Akteure:

Marvin Chlada ist Kulturwissenschaftler und Musiker. Dazu Agent des literarischen Undergrounds seit Ende der 1980er Jahre, Übersetzer (u.a. D.H. Lawrence und Allen Ginsberg), Herausgeber diverser Sammelbände und Anthologien (z.B. Alles Pop? und Das Universum des Gilles Deleuze). Im Verlag Trikont Duisburg/Dialog Edition erschienen jüngst von ihm der Lyrikband „Der Poet als Lumpensammler“ sowie die Anthologien „Störtebeker – Seeräuber, Volksheld, Legende“ und auch „LEMMY – eine Hommage“.

Stefan Schlensag (aka Blind Joe Black ph.D.) ist promovierter Wissenschaftler und arbeitet im Feld der Cultural Studies. Seine Forschungsschwerpunkte sind im Bereich der Populärkultur angesiedelt. Er veröffentlichte Bücher und Artikel zu Science Fiction, Comics und kulturwissenschaftlichen Theorien. Vor allem aber ist er auch treibende Kraft verschiedener Musikprojekte (The Hipsters, Better Day Organization, Monochord, Blind Joe Black) und seit vielen Jahren Teil der Musikszene im Ruhrgebiet.

Silke Vogtenmeistens Poetin und dazwischen rastlose Journalistin ist zurück von unterwegs und bringt poetische Hüftschüsse aus Berlin, Köln und dem Ruhrgebiet mit. Dazu gibt es neue Berichterstattung aus dem expandierenden Absurdistan sowie Gedichte aus ihrem aktuellen Buch „Als ich hinsah“, erschienen im Verlag Trikont Duisburg/ Dialog Edition.

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